«Der Körper ist ein Spiegel der Psyche»

Aurélie Deschenaux
Verband
Auf die eigenen Empfindungen zu achten und bereit zu sein, sich neu zu entdecken, ist für die Psychotherapeutin und Sexologin Laurence Dispaux der Schlüssel zu einer erfüllten Sexualität.

Amselgesang begleitet mich bis zur Rue de la Musardière in Tolochenaz, inmitten des Waadtlands. Passanten grüssen freundlich unter der Morgensonne. Ein Schild bestätigt mir, an der richtigen Adresse zu sein. Ein Händedruck und ein offener Blick genügen, um die ganze Energie und wohlwollende Haltung von Laurence Dispaux zu spüren. Sie gehört zu den Menschen, in deren Gegenwart man sich sofort wohl fühlt. Das ist gut so, kommt man doch zu ihr, um über eines der intimsten Themen überhaupt zu sprechen: die eigene Sexualität.

Der Psychologin zufolge ist Verlegenheit trotzdem selten im Raum zu spüren. «Die Klientinnen und Klienten bereiten sich auf die erste Sitzung oft vor. Sie wissen, was sie besprechen wollen, wenn sie zu mir kommen. Nur selten wird um den heissen Brei herumgeredet.» Dass die Ansprechpartnerin selbst sehr frei und offen mit dem Thema Sexualität umgeht, erleichtert die Angelegenheit. «Bei Blockaden weise ich gerne auf die Warteliste für die nächsten Termine hin. Für Menschen ist es wichtig zu verstehen, dass sie nicht die einzigen in dieser Situation sind.»

Steigende Nachfrage
Bei Weitem nicht die einzigen. Die Psychologin erinnert sich an ihre Anfangszeit, als es lediglich drei oder vier Sexologinnen und Sexologen in der Region Lau–sanne gab. In den letzten zehn Jahren schossen in der Romandie die Fachpraxen wie Pilze aus dem Boden. An Klientel fehlt es nicht. Heute thematisieren Paare sexuelle Probleme schneller und ziehen früher in Erwägung, Hilfe zu suchen. «Viele Paare kommen wegen unterschiedlicher Erwartungen in die Sprechstunde oder weil zumindest einer oder beide darunter leiden. Nimmt das Leiden überhand, wird ein Termin vereinbart. Bei anderen ist ein spezifisches Problem der Auslöser, beispielsweise eine Erektionsstörung, vorzeitiger Samenerguss, Anorgasmie, Schmerzen oder die Unfähigkeit, Geschlechtsverkehr zu haben.»

Auch kommen Menschen, die nicht in einer Paarbeziehung sind, weil sie sich nicht trauen, auf andere zuzugehen, oder Personen, die auf Hochleistungen im Bett erpicht sind. «Ich beobachte eine enorme Leistungsangst. Auch heute gibt es noch idealisierte und falsche Vorstellungen über perfekten Sex. Nicht selten ist es nötig, ein realistischeres Ziel zu formulieren.» Ebenso viele Männer wie Frauen zählen zu ihrer Klientel. Das ist insofern erwähnenswert, weil beispielsweise in psychotherapeutischen Behandlungen Patientinnen die Mehrheit darstellen.

Botschaften entschlüsseln
Ja, die Karten sollen auf den Tisch gelegt werden, aber nur bedingt. Die Klientinnen und Klienten haben in der Regel kein Problem, über «mechanische» Aspekte, die sie belasten, zu sprechen. Emotionen zu akzeptieren und erkunden, stellt jedoch eine Herausforderung dar. Häufig muss die Sexologin nachforschen, um herauszufinden, was sich hinter dem ihr Anvertrauten verbirgt. Aussagen wie «ich habe Erektionsschwierigkeiten» können beispielsweise auf Bindungsprobleme hinweisen. «Die Kernkompetenz einer Sexologin oder eines Sexologen besteht darin, Empfindungen und Emotionen zu dekodieren. Auch mechanische Aspekte werden berücksichtigt. Konkrete, positive Wirkungen zeigen sich allerdings oftmals erst bei der Arbeit mit Emotionen, also an der Fähigkeit, sie zu erleben und auszudrücken», betont Laurence Dispaux. «In manchen Fällen arbeiten wir auch mit Fachleuten aus den Bereichen Gynäkologie, Urologie und Osteopathie zusammen. Dabei geht es insbesondere um Übungen zur Entspannung des Beckenbodens.»

«Bei der Sexualität ist fast nichts natürlich und spontan.»

Sich neu entdecken
Bei ihrer Arbeit stützt sie sich gerne auf das sogenannte Sexocorporel-Konzept. «Wir gehen davon aus, dass der Körper ein Spiegel der Psyche ist. Wie ein Mensch geht, atmet, sich bewegt und seinen Körper erlebt, hängt mit dem zusammen, was sich in seiner Psyche abspielt und umgekehrt», erläutert die Sexologin. Die Arbeit mit dem Körper wirkt sich auch auf die Psyche aus. «Manche Menschen, die in meine Sprechstunde kommen, haben einen ziemlich starren Erregungsmodus – sie sind quasi auf einer Schiene festgefahren. Wenn dieser Modus nicht zu ihrer Partnerbeziehung passt, helfe ich dabei, ihn aufzulockern und sexuelle Vorstellungen entsprechend anzupassen.»

Beispielsweise kann eine Person mit lebhaften, dynamischen Fantasiebildern in eine sanftere, lustvollere Richtung geleitet werden. Wer die eigenen Emotionen mit einem flexibleren, offeneren Körper erlebt, kann sie auch besser regulieren. Umgekehrt läuft ein Körper, der verkrampft und blockiert ist, Gefahr, von den Emotionen, denen er begegnet, überwältigt zu werden. Der Sexocorporel-Ansatz zielt insbesondere darauf ab, diese Verbindung zwischen kognitiven und körperlichen Funktionen ins Gleichgewicht zu bringen.

Körperübungen sollen ein wertfreies Erleben ermöglichen. Um dies zu erreichen, müssen die Patientinnen und Patienten von Laurence Dispaux manchmal mit ihrer eigenen Kognition verhandeln. Zum Beispiel erklärt eine Frau, sie könne keine Absätze tragen, weil das nicht ihrer Persönlichkeit entspreche. Gleichzeitig verbindet sie damit eine Form von Weiblichkeit, die sie sich gerne aneignen würde. Die Sexologin rät ihr, auf ihre Empfindungen und Gedanken in verschiedenen Situationen zu achten, zu experimentieren und ihre eigene Weiblichkeit aufzuspüren. «Wir können ständig neue Facetten an uns entdecken.»

«Ich habe mich als Frau gefühlt.» 
Eine junge Frau mit Orgasmusproblemen hat sich ein Herz gefasst. Bei einer Achtsamkeitsübung mit der Sexologin offenbart sie ihr Unbehagen, sobald sie sich auf ihre Empfindungen im Beckenbereich konzentriert. «Das ist nicht gut. An diesen Teil des Körpers sollte man nicht so oft denken», entfährt es ihr. Daraufhin führen Therapeutin und Klientin eine Reihe von Gang­übungen durch, bei denen sie abwechselnd das Becken rotieren, schwingen und nach vorne und hinten neigen. Bei der nächsten Sitzung berichtet die Klientin, was sie einige Tage zuvor erlebt hat: Zum ersten Mal habe sie beim Tanzen das Gefühl gehabt, in ihrem Körper heimisch zu sein. «Ich habe mich als Frau gefühlt. Frei. Und nicht vulgär.»
 
Das Wesentliche bei der Arbeit an der eigenen Sexualität ist, sich selbst treu zu bleiben. «Es geht darum, eine neue Facette unserer selbst zu erkunden – auch wenn sie immer schon ein Teil von uns war. Das sexuelle Wesen, das wir sind, ist auch das, was uns ausmacht.»

Auf alle Dimensionen einwirken
Laurence Dispaux wählte diesen Beruf, weil die Arbeit mit der Sexualität in ihren Augen alle Facetten des Menschen berührt. Über diesen Zugang lässt sich alles verändern. «Einer meiner Dozenten sagte einmal, vergleicht man das Leben mit einem Stapel Teller, stellt die Sexualität den untersten dar. Ist er stabil und robust, fördert er das Selbstvertrauen. Wer an der eigenen Sexualität arbeitet, kann auf alle Dimensionen des Lebens einwirken.»
 
Der Zufall hat Laurence Dispaux, die sich «leidenschaftlich für Paarbeziehungen interessiert», zu diesem Beruf geführt. «Dass ich heute Psychologin bin, verdanke ich nicht zuletzt einem Fehler in meinem Stundenplan am Gymnasium. Ohne es wirklich zu wollen, bin ich in einer fortgeschrittenen Psychologiestunde gelandet. Ich war sofort gefesselt.» In der Folge absolvierte sie verschiedene Praktika. «Bereits mit 22 Jahren sprach ich mit Paaren über deren Sexualität. Ich hatte keinerlei Erfahrung.» So beschloss sie, in Lyon eine Fachausbildung in Sexologie zu absolvieren, weil es damals in der Schweiz nichts Entsprechendes gab. Parallel dazu vertiefte sie ihre Kenntnisse in der systemischen Therapie, weil der Beziehungsaspekt Bestandteil der sexologischen Arbeit ist.

Später bildete sie sich in der Sexoanalyse weiter. Seither bildet sie sich regelmässig weiter und macht sich mit diversen Ansätzen vertraut. Dies ist wichtig für ihre Arbeit: so kann sie den verschiedensten individuellen Bedürfnissen gerecht werden. «Man sollte sich die Zeit und Möglichkeit geben, zu lernen und umzulernen», meint sie. Auch auf dem Gebiet der Sexualität: «Es ist fast nichts natürlich und spontan.»

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