Die zweite Welle der Covid-19-Pandemie hat die psychische Belastung der Schweizerinnen und Schweizer noch einmal verstärkt. Eine Umfrage, an der 1’700 Psychologinnen und Psychologen teilnahmen, zeigt, dass bei 60% der Befragten die Auslastung seit September 2020 noch einmal zugenommen hat. Zwei Drittel der Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten müssen regelmässig Anfragen aus Mangel an Kapazitäten abweisen bzw. an andere Stellen verweisen.
Fast 90% der Antwortenden berichten, dass sich die Problemstellungen und Symptome während der Pandemie verschlimmert haben, bzw. aufgrund der Belastungssituation neue Probleme und Symptome entstanden sind. Am meisten genannt werden Depressionen, Angst- und Zwangserkrankungen, Probleme in der Familie/Paarbeziehung sowie Probleme am Arbeitsplatz und in der Schule. 22% berichten von einer gestiegenen Suizidalität.
Für die Psychologinnen und Psychologen ist das alarmierend. «Bereits vor der Pandemie gab es Lücken in der ambulanten psychotherapeutischen Versorgung. In ländlichen Regionen und wenn Kinder und Jugendliche betroffen waren, mussten Patientinnen und Patienten bis zu sechs Monate auf einen Therapieplatz warten», sagt Yvik Adler, Co-Präsidentin der Föderation der Schweizer Psychologinnen und Psychologen (FSP). «Der Bedarf ist durch die Pandemie weiter gestiegen. Wenn psychische Störungen nicht frühzeitig behandelt werden, kann dies zu Chronifizierung und dauerhaften Beeinträchtigungen führen, was hohe Kosten zur Folge hat», ergänzt Stephan Wenger, Co-Präsident der FSP.
Verzicht auf Therapie wegen fehlender finanzieller Mittel
Besonders besorgniserregend: 86% der selbstständig erwerbenden Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten haben regelmässig Anfragen von Menschen in psychischer Not, die aus finanziellen Gründen auf die Therapie verzichten. Auch sehen sich viele Patientinnen und Patienten gezwungen, eine Therapie aus finanziellen Gründen vorzeitig abzubrechen. Leistungen von selbstständig erwerbenden psychologischen Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten können nicht über die Grundversicherung abgerechnet werden, die Patienten müssen die Therapie selbst bezahlen (siehe Kasten). «Dieses Problem muss nun dringend gelöst werden», sagt Gabi Rüttimann, Präsidentin der Assoziation Schweizer Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten (ASP). «Mit der Einführung des Anordnungsmodells für die psychologische Psychotherapie könnten auch Leistungen von selbstständig erwerbenden Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten über die Grundversicherung abgerechnet werden. Dadurch kann das Angebot an Psychotherapieplätzen, die von der Grundversicherung finanziert werden, vergrössert werden.»
Ein entsprechendes Projekt zur Einführung des Anordnungsmodells liegt bereits seit Sommer 2019 vor, die Vernehmlassung ist abgeschlossen. Es fehlt einzig der Entscheid des Bundesrates, der für das erste Quartal 2021 angekündigt wurde. «Wir erwarten nun, dass der Bundesrat schnell handelt», sagt Christoph Adrian Schneider, Präsident des Schweizerischen Berufsverbands für angewandte Psychologie (SBAP). «Es darf nicht sein, dass Menschen, die unter psychischen Erkrankungen leiden, aus finanziellen Gründen auf eine notwendige und erwiesenermassen wirksame Therapie, die hohe Folgekosten für die Allgemeinheit verhindern kann, verzichten müssen.» Mit frühzeitig erfolgten Behandlungen können Einsparungen von jährlich rund 500 Millionen CHF erzielt werden, in den Unternehmen durch die Vermeidung von Produktionsausfällen aufgrund geringerer Krankheitsabsenzen (Absentismus) und weniger unproduktiver Anwesenheit (Präsentismus), in der Grundversicherung durch weniger stationäre Behandlungen und in den Sozialversicherungen durch die Vermeidung von Arbeitslosigkeit und Invalidisierung.
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