Die Psychologie der Verschwörungstheorien

Pascal Wagner-Egger
Forschung
Verband
Verschwörungstheorien hatten schon vor der Covid-19-Pandemie Hochkonjunktur. Welche persönlichen und sozialen Faktoren begünstigen den Glauben an Verschwörungstheorien?

Verschwörungstheorien gab es schon immer, derzeit haben sie jedoch Hochkonjunktur, insbesondere im Internet und den sozialen Netzwerken, dem neuen «Supermarkt der Ideen». Laut einer Anfang Januar 2018 in Frankreich durchgeführten Umfrage glauben 79 Prozent der Französinnen und Franzosen an mindestens eine Verschwörungstheorie, wobei unter Verschwörungstheorie eine naive Erklärung eines gesellschaftlich bedeutenden Ereignisses wie der Tod eines Promis, eine Klimakatastrophe, ein Terroranschlag oder Flugzeugabsturz verstanden wird, welche die offizielle Version infrage stellt und eine Intervention einer im Verborgenen agierenden Gruppe annimmt.

Derartigen Verschwörungstheorien zufolge war die CIA für die Ermordung des US-Präsidenten John F. Kennedy verantwortlich, die Beweise und Bilder der Mondlandung der Apollo-Mission wurden von der Nasa gefälscht und das Aidsvirus im Labor entwickelt. Etwa ein Drittel der Jugendlichen in Frankreich ist der Ansicht, dass hinter der Planung und Ausführung der Attentate der letzten Jahre nicht nur islamistische Terroristen, sondern auch bestimmte Geheimdienste standen. Dieser hohe Anteil gibt Bildungsfachleuten zunehmend Anlass zur Sorge.

Verschwörungen  und  Verschwörungstheorien Verschwörungen  im  Sinne  eines  geheimen Agierens einer Personengruppe gibt es seit Menschengedenken. Im Gegensatz dazu definiert der Psychologe Robert Brotherton  Verschwörungstheorien  als  «nicht  verifizierte Behauptungen einer Verschwörung» in Bezug auf bedeutende Ereignisse in der Welt. Auch wenn sich die eine oder andere Verschwörungstheorie nachträglich als wahr erweist wie diejenige, die die vermeintliche Existenz von Massenvernichtungswaffen im Irak anlässlich der Intervention der USA im Jahr 2003 in Zweifel zog –, die grosse Mehrheit der im Internet und anderswo kursierenden Verschwörungstheorien ist im besten Fall spekulativ und im schlimmsten Fall absurd.

Zu einem Ereignis, der Ermordung John F. Kennedys etwa, gibt es eine Vielzahl von Verschwörungstheorien, von denen nur eine zutreffen könnte. Statistisch gesehen steht also fest, dass der Grossteil der Verschwörungstheorien falsch ist. Doch das grösste Problem besteht nicht darin, dass sie kaum oder nicht fundiert sind, sondern darin, dass sie zu Risikoverhalten führen können, wie der Verweigerung von Impfungen oder gar Terrorismus.

Trotzdem sind solche Ideen intellektuell reizvoll, wie auch ihre starke Präsenz in Bestsellern, TV-Serien und Filmen wie Da Vinci Code, X-Files oder The Matrix zeigen. Seit einigen Jahren  bemühen  sich  Forschende  der  Psychologie,  die  persönlichen  und  sozialen Faktoren zu identifizieren, die Menschen dazu bringen, an Verschwörungstheorien zu glauben. Dass sich Menschen  generell von  diesen  Theorien angezogen fühlen erklärt sich aus «normalen» kognitiven Prozessen. Die Forschung zeigt allerdings auch, dass bestimmte Personengruppen diesen im «postfaktischen Zeitalter» der «Fake News» im Trend liegenden Ideen eher anhängen als andere.

79 Prozent der Franzosen glauben an mindestens eine Verschwörungstheorie.

Eine erste wichtige Erkenntnis dieses Forschungsbereichs besteht darin, dass Personen, die einer Verschwörungstheorie anhängen, auch dazu neigen, anderen Verschwörungstheorien Glauben zu schenken. Der Sozialpsychologe Serge Moscovici bezeichnet dies als
«Verschwörungsmentalität». Dieses Konzept konnte in zahlreichen Untersuchungen empirisch belegt werden, namentlich in einer Studie, die wir 2007 in Zusammenarbeit mit dem Psychologieprofessor Adrian Bangerter in der Schweiz durchgeführt haben.

Forschende identifizierten mehrere kognitive Prozesse beziehungsweise  Verzerrungen:  Personen, bei denen der Glaube an Verschwörungstheorien am ausgeprägtesten ist, tendieren stark zu Anthropomorphismus, das heisst, sie schreiben Gegenständen und Tieren menschliche Intentionen zu. Zudem wurde in einigen Studien, beispielsweise in den 2011 und 2014 veröffentlichten Arbeiten des Psychologen Viren Swami, eine negative Korrelation zwischen Intelligenz und Verschwörungstheorien festgestellt. Insbesondere eine experimentelle Studie zeigte, dass ein stärkerer Glaube an Verschwörungstheorien mit einer Art intuitivem, nichtrationalem Denken sowie einem geringeren Mass an analytischem Denken und Offenheit einhergeht.

Ein anderer kognitiver Fehler, der zu konspirationistischem Denken führt ist der sogenannte Konjunktions-Effekt. Dabei wird das gleichzeitige Auftreten  zweier  Ereignisse  fälschlicherweise als wahrscheinlicher eingestuft als das Auftreten eines der beiden Ereignisse, was wahrscheinlichkeitstheoretisch betrachtet nicht möglich ist. Als Beispiel im Arbeitsumfeld: (1) «Wegen eines Virus sind die Daten auf Patricks Computer verloren gegangen» und (2) «Die Geschäftsführerin hat Patrick die Projektleitung entzogen». Eine  Studie  der britischen  Forscher Robert Brotherton und Chris French ergab, dass Anhängern von Verschwörungstheorien derartige Denkfehler häufiger unterlaufen als anderen Personen.

Eine weitere Heuristik – eine rasche und intuitive kognitive Operation – im Zusammenhang mit Verschwörungstheorien ist den Forschungsarbeiten der Psychologen Patrick Leman und Marco Cinnirella zufolge die Neigung, bedeutenden Ereignissen, wie dem Tod von Prinzessin Diana im Jahr 1997, bedeutende  Ursachen  zuzuschreiben.  Beispielsweise  eine Verschwörung statt schlicht und einfach Pech als Ursache eines Unfalls zu vermuten.

Individuelle und soziale Faktoren
Auf soziopolitischer Ebene wurde die Verschwörungsmentalität in zahlreichen Forschungsarbeiten mit einem Gefühl der Anomie – einer Mischung aus Misstrauen gegenüber den Behörden, dem Gefühl, keine Kontrolle über sein Leben zu haben, und Unzufriedenheit – sowie mit einer extrem rechten (und manchmal, wenngleich seltener, extrem linken) Gesinnung in Zusammenhang gebracht.

Durch diese Merkmale wird der Glaube an Verschwörungstheorien zu einer spezifischen politischen Haltung, die für gesellschaftliche Randgruppen charakteristisch ist. Ein Beispiel hierfür ist die schwarze Minderheit in den USA, wie die Sozialpsychologin Jennifer Crocker aufzeigte.

Auf Ebene der Persönlichkeit besteht ein Zusammenhang zwischen dem Glauben an Verschwörungstheorien und bestimmten tendenziell pathologischen Merkmalen wie der Schizotypie – eine Persönlichkeitsstörung, die durch Paranoia (das Gefühl, beobachtet zu werden, dass andere einem etwas verübeln und so weiter) sowie durch eine zur Isolation führende Sozialphobie gekennzeichnet ist und mit wahnhaften Verhaltensweisen und Gedanken einhergeht. Damit verbunden sind abergläubische, magische oder paranormale Überzeugungen, die bei Anhängern von Verschwörungstheorien ebenfalls häufiger zu beob- achten sind.

Im Zusammenhang mit Schizotypie wiesen mehrere Forschende zudem nach, dass bei Personen, die eigenen Angaben zufolge unter bestimmten Formen von Angst leiden, eine stärker ausgeprägte Verschwörungsmentalität zu beobachten ist.  Darüber hinaus wurde in der Forschung ein Zusammenhang zwischen Verschwörungsglauben und geringem Selbstwertgefühl festgestellt.

Auch  auf  motivationaler  Ebene  konnten,  insbesondere vom Team des niederländischen Psychologen Jan Willem van Prooijen, bestimmte Zusammenhänge nachgewiesen werden. Die von der Forschungsgruppe befragten Personen tendierten in Situationen der Unsicherheit   beziehungsweise   fehlender  Kontrolle in stärkerem Masse zu Verschwörungstheorien, um wieder das Gefühl zu haben, die Situation zu kontrollieren.

Der französische Wissenschaftler Anthony Lantian und sein Team zeigten 2017 ausserdem, dass das Gefühl einzigartig zu sein, als Katalysator des Glaubens an Verschwörungstheorien fungieren kann: Dabei hat die betreffende Person das Gefühl anders oder sogar der «Schafherde» überlegen zu sein, die die offizielle Version naiv glaubt. Dies könnte auch die Korrelation zwischen geringem Selbstwertgefühl und Verschwörungsglauben erklären.

Was soziale Faktoren angeht, stellten einige Forscherinnen und Forscher einen Zusammenhang zwischen sozialer Identität – dem auf Gruppenzugehörigkeit basierenden Teil unserer Identität – und dem Glauben an Verschwörungstheorien fest. In der muslimischen Gemeinschaft Indonesiens etwa korreliert eine  starke  Identifikation mit der eigenen Gruppe mit einem stärkeren Glauben an Theorien nach denen sich die USA gegen Musliminnen und Muslime verschwört haben.

Das Gefühl, einzigartig zu sein, katalysiert Verschwörungsglauben.

Zu diesem Ergebnis kamen 2015 der Psychologe Ali Mashuri und die Psychologin Esti Zaduqisti. Auch eine  2005  durchgeführten Untersuchung der polnischen Psychologinnen Monika Grzesiak-Feldman und Marta Kaminska-Feldman ergab, dass die Polinnen und Polen, die sich am stärksten mit ihrem Land identifizieren, eher Theorie anhängen, die die russischen oder deutschen Nachbarn beschuldigen, auf Ebene der internationalen Beziehungen eine Verschwörung gegen Polen anzuzetteln.

Riskantes Verhalten als Folge
Diese Bestandsaufnahme der Forschung zu Verschwörungstheorien ergibt ein wenig erfreuliches Bild. Eine Vielzahl von Studien zeigt, dass solche Theorien von einer wenig rationalen Sinnsuche von Individuen oder marginalisierten Gruppen herrühren. Sie zielen nicht auf Wahrheitssuche ab, sondern erfüllen in erster Linie eine psychologische und soziale Funktion: Sie dienen der Sinnsuche oder dem Kontrollstreben in einer als chaotisch empfundenen Welt.

Die sozialwissenschaftliche Erforschung derartiger Überzeugungen ist sehr wichtig: Einige Forschungsarbeiten zeigten auf, dass der Glaube an Verschwörungstheorien negative Effekte, wie wenig Bereitschaft, die Kinder zu impfen, eine skeptischere Haltung gegenüber dem Klimawandel oder Politikverdrossenheit zur Folge haben kann. Auch jene, die Terroristen rekrutieren, vermitteln ihren Anhängern ein von Verschwörungstheorien durchsetztes Weltbild. Dadurch wird dieses nicht bloss mit einem fesselnden Narrativ unterlegt, das im Übrigen oft von der Unterhaltungsindustrie aufgegriffen wird. Es sind Erzählungen, die das Vertrauen zerstören können, das die Grundlage des gesellschaftlichen Lebens bildet.

Der Autor

Pascal Wagner-Egger ist Dozent für Sozialpsychologie im Departement für Psychologie der Universität Fribourg. Seine Arbeiten beschäftigen sich mit dem Glauben, insbesondere dem Glauben an Verschwörungstheorien, sowie mit sozialen Repräsentationen, Denken, Rassismus und Sexismus.

Literatur

Wagner-Egger, P., & Bangerter, A. (2007). La vérité est ailleurs: corrélats de l‘adhésion aux théories du complot [The truth lies elsewhere: Correlates of belief in conspiracy theories]. Revue Internationale de Psychologie Sociale, 20, 31–61.

Douglas, K. M., Sutton, R. M., & Cichocka, A. (2017). The Psychology of Conspiracy Theories. Current Directions in Psychological Science, 26(6), 538–542.
 

Erschienen in Psychoscope 2/2018

Kommentare

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Ludovic Ludovic

Ludovic Ludovic

07/12/2020

Bonjour et merci pour cette opportunité d’échanger
J’ai toutefois une question simple
Comment vivre avec des «  complotistes »
Sans pour autant perdre la raison soi même
( énervement, recherche du contre-argument, stress et rupture de lien...)
Bien cordialement

Sébastien Anonyme 30

Sébastien Anonyme 30

10/07/2021
Ludovic Ludovic

C'est horrible de vivre avec un complotiste ! Depuis la covid un changement de comportement de pire en pire . Pour ma part je ne sais plus comment faire . Mon couple va droit dans le mur .
Je souffre énormément de cela car j'aime mon épouse comme jamais

Didier Mermin

Didier Mermin

04/02/2021

Excellent article où rien ne m'a étonné, mais où rien n'est sûr non plus. La recherche, si elle est sérieuse, ne peut produire que des corrélations, il ne peut pas y avoir de causalité "solide".
Il se trouve que j'ai publié, pas plus tard qu'hier, un long article pour réfuter une vidéo typiquement complotiste que l'on m'avait mis sous le nez et qui m'avait écœuré : c'est l'histoire d'un certain Ronald Bernard qui raconte avoir été témoin de criminels sataniques qui "sacrifient" des enfants. L'article est ici : http://onfoncedanslemur.blog/2020/08/21/refutation-dun-hoax-bien-poisse…

Il me reste à lui ajouter en annexe la transcription intégrale de la vidéo, pour éviter au lecteur de perdre du temps à l'écouter.

Pascal Wagner-Egger

Pascal Wagner-Egger

28/09/2020
Didier Mermin

Merci de votre commentaire, en fait, il y a aussi des recherches expérimentales (à la causalité plus établie), mais elles sont plus difficiles à répliquer que les corrélations. Notez que les corrélations sont tout de même des indices de causalité possible (même dans le cas de l'existence d'un troisième facteur, comme la corrélation est instrasujet, cela signifie qu'un éventuel troisième facteur sera lui aussi lié à une caractéristique personnelle ou sociale de la personne : nous ne sommes pas dans le cas d'un troisième facteur qui expliquerait deux facteurs qui n'ont aucun lien entre eux, comme le fameux exemple de l'industrialisation qui a fait baisser le nombre de cigognes et le nombre de naissances).

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