Kinder? Nein, Danke!

In der Schweiz hat jede dritte Frau kein Kind. Frauen haben die Möglichkeit, sich auf andere Weise zu verwirklichen als in der Mutterrolle. Doch diese Lebensweise wird von vielen noch heute kritisch beurteilt.
«Ich mag Kinder. Aber nur die der anderen» oder «Ich möchte ganz einfach keine Kinder» oder auch «Mich um Kinder zu kümmern, interessiert mich wirklich nicht». So oder ähnlich lauten in den sozialen Medien die zahlreichen Aussagen von Frauen, die sich keine Kinder wünschen. Facebook-Gruppen wie «No kids, no worries», «Dual Income No Kids» oder «Je ne veux pas faire d’enfant. Je ne vois pas le problème». (Ich möchte kein Kind und verstehe nicht, wo das Problem sein soll) haben mehrere Zehntausend Mitglieder, darunter auch Männer. Häufig geht es dabei halb scherzhaft über das Ausschlafen, Aperitifs mit Freunden, Reisen, Sparen und ähnliche Themen. Es gab zwar schon immer einzelne Frauen ohne Kinderwunsch, doch heute bilden sich unter Bezeichnungen wie «childfree» neue Bewegungen heraus. Diese hauptsächlich in den englischsprachigen Ländern gegründeten Interessengruppen fordern lautstark Legitimität für Frauen ohne Kinderwunsch, und einige greifen Frauen, die sich für Kinder entschieden haben, manchmal sogar an. Diese starken Reaktionen lassen sich zum Teil dem sozialen Druck zuschreiben, dem zahlreiche Frauen ohne Kinderwunsch ausgesetzt sind.
Sich den Erwartungen entziehen
«Und du, wann bekommst du ein Kind?» Dies bekommen Frauen unter anderem in der Familie, von Freunden und in ihrem Arbeitsumfeld zu hören. Fast allen Frauen, die noch nicht Mutter sind, wird ab dem 30. Lebensjahr eingeschärft, dass nun die biologische Uhr tickt. Auch in unserer Zeit der alleinerziehenden Eltern, der Patchworkfamilien und der gleichgeschlechtlichen Eltern ist die Entscheidung gegen Kinder immer noch ein Tabu, das gelegentlich sogar Hassreaktionen hervorruft. Regelmässig werden Frauen ohne Kinderwunsch als egoistisch oder widernatürlich bezeichnet: «Fast so, als würden sie die Welt auf den Kopf stellen, als würde sich die Erdkugel dann andersherum drehen», sagt die promovierte Psychologin Edith Vallée, die im Bereich der Nichtmutterschaft Pionierarbeit geleistet hat. Sie erläutert: «Ich denke, darin äussern sich sehr archaische Ängste, die noch aus der Zeit stammen, als Kinder notwendig für das Überleben der Menschheit waren. Dieses Gefühl ruft heftige Reaktionen hervor, die zum eigentlichen Phänomen in keinem Verhältnis stehen.» Auch wird mit der Entscheidung gegen Kinder die Mutterrolle von ihrem Sockel gestossen. Das ist nicht immer einfach zu verstehen und zu akzeptieren.
Edith Vallée begann in den 1970er-Jahren, sich mit der Nichtmutterschaft zu beschäftigen. Sie widmete ihre Doktorarbeit dem Thema. In dieser Zeit gab es einen starken Bewusstseinswandel: Die Frauen wurden sich darüber bewusst, dass es möglich war, sich dem elterlichen und gesellschaftlichen Druck zu entziehen: «Frauen, die keine Kinder wollten, wurden damals aber immer noch als ungeheuerlich angesehen», sagt Edith Vallée. «In den 1980er-Jahren kam dann eine gewisse Art von Neugier und auch Interesse für diese Frauen auf, die ihr Leben und ihren Körper selbst bestimmten. Sie wurden respektiert.» Dann kam die Wirtschaftskrise. Wie immer in solchen Zeiten wandte sich die Gesellschaft wieder den sicheren Werten wie der Familie zu. Kein Kind zu wollen, wurde wieder angeprangert.
Seit den 2000er-Jahren wird offen über das Thema gesprochen. Die von der israelischen Soziologin Orna Donath durchgeführte und im Jahr 2015 veröffentlichte Studie Regretting Motherhood trug dazu sicher bei. Orna Donath gab in dieser qualitativen Studie Frauen das Wort, die ihre Kinder zwar lieben, es aber bedauern, Mutter geworden zu sein. Dies hat nichts mit der vorübergehenden postpartalen Depression zu tun. Die von Orna Donath befragten Frauen gaben an, dass sie täglich leiden und die Entscheidung für ein Kind nicht noch einmal treffen würden. Die Soziologin wendet sich in ihrer Studie gegen die Beharrlichkeit, mit der Frauen in der Gesellschaft zur Fortpflanzung gedrängt werden, ohne jedoch unterstützt zu werden oder Interesse für das heranwachsende Kind zu erhalten. Ihre Veröffentlichung stiess weltweit auf ein starkes Echo und löste insbesondere in Deutschland und Grossbritannien heftige Debatten aus, die vor allem in den sozialen Medien unter dem Hashtag #regrettingmotherhood geführt werden. So berichtet beispielsweise eine junge Mutter auf Twitter: «Ich liebe mein kleines Monster. Wirklich. Aber: Ich wollte keine Kinder. Ich habe dem Druck nicht standgehalten (...) Ich hatte eine postpartale Depression und leide nun schon zu lange unter Burnout. Deswegen: Ja, ich bedaure es, Mutter geworden zu sein.» Die Debatte im Anschluss an die Veröffentlichung der israelischen Studie hat vielen Frauen bewusst gemacht, dass sie sich den Erwartungen entziehen können. So schreibt eine Frau in den sozialen Medien: «Ich hatte mir mein Leben immer mit Kindern vorgestellt. Niemals hatte ich darüber nachgedacht, dass es auch möglich ist, kein Kind zu haben und sich auch keines zu wünschen.»
Anteil der Kinderlosigkeit bleibt stabil
Laut der letzten Erhebung zu Familien und Generationen des Bundesamts für Statistik (BFS) 2018 äusserten nur 8,8 Prozent der jungen Frauen und Männer im Alter von 20 bis 29 Jahren den Wunsch, kinderlos bleiben zu wollen. Es bekommen allerdings nicht alle die Anzahl an Kindern, die sie sich als junge Menschen gewünscht haben. Der Anteil der Frauen, die in der Schweiz kinderlos bleiben, ist alles andere als vernachlässigbar: 19,7 Prozent der Frauen zwischen 50 und 59 Jahren haben kein Kind. Bei Frauen, die ein Hochschulstudium absolviert haben, liegt dieser Anteil bei 30,5 Prozent. Doch aus diesen Zahlen lässt sich nicht zwischen den unfreiwillig kinderlosen Frauen (die «childless» sind, also aufgrund von Lebensereignissen oder Unfruchtbarkeit keine Kinder haben) und den freiwillig kinderlosen Frauen («childfree») unterscheiden.
der Mutterrolle.»
Claudine Sauvain-Dugerdil, Professorin für Familiendemografie an der Universität Genf, sagt: «In der Schweiz war der Anteil der Frauen ohne Kinder schon immer hoch. Und er liegt weiterhin stabil bei etwa 20 Prozent.» Die Familiendemografin hat einen wissenschaftlichen Artikel mit dem Titel Une vie florissante sans enfant? Le cas de la Suisse (siehe nebenstehendes Interview) verfasst. Sie wollte herausfinden, ob keine Kinder zu haben einem spezifischen Lebensentwurf entspricht, der sich verbreitet. Ihr Ergebnis ist eindeutig: «Der Anteil der Frauen, die kein Kind wollen, steigt nicht signifikant. Anders, als man meinen könnte, handelt es sich also nicht um ein Phänomen, das sich derzeit in der Schweiz ausbreitet.» Die Demografin unterstreicht, dass der Kinderwunsch ein sehr ambivalentes Thema ist: «Wenn dieselben Frauen wiederholt befragt werden, stellt man fest, dass sie sich von Jahr zu Jahr anders entscheiden. Es gibt nur wenige, die dreimal in Folge angeben, keine Kinder zu wollen.»
Sich anders verwirklichen
Wer sind also diese Frauen, die sich gegen Kinder entscheiden? Die Psychologin Edith Vallée teilt sie in drei Gruppen ein. In der ersten Gruppe sind Frauen, die keine Kinder haben, weil sie mit der Person zusammenleben, die sie lieben: Diese ausschliessliche Beziehung lässt für Kinder keinen Raum. In die zweite Gruppe fallen Frauen, die sich mit dem verwirklichen, was sie tun. Sie engagieren sich mit einer solchen Energie, dass sie keine weiteren Betätigungsfelder benötigen. Und die dritte Gruppe besteht aus Frauen, die eine schwierige Kindheit hatten oder eine Welt ablehnen, die sie als gewalttätig und ungerecht wahrnehmen. Zu dieser Gruppe gehört auch die Bewegung der Ginks («Green Inclination, no Kids»), deren Anhängerinnen und Anhänger aus Umweltgründen keine Kinder möchten. Sie finden sich unter Hashtags wie #birthstrike und in Gruppen wie Extinction Rebellion und fordern das Recht ein, die Fortpflanzung als solche zu hinterfragen: «Dieses Engagement ist durchaus legitim, gerechtfertigt und notwendig, deckt aber nicht sämtliche Aspekte ab. Es gibt nur wenige Menschen, die ausschliesslich umweltbezogen denken», sagt Edith Vallée. Weiter stellt die Psychologin fest, dass die meisten Frauen ihre Entscheidung gegen Kinder nicht aus Ablehnung heraus treffen: «Sie fühlen sich einfach zu etwas anderem hingezogen und möchten sich anders verwirklichen als in der Mutterrolle. Wenn man sein Leben selbst bestimmen kann, fällt die Entscheidung nicht für oder gegen Kinder, sondern für sich selbst. Es ist niemals zu spät, sich selbst zu verwirklichen. Für die Frau ist wichtig zu wissen, was ihr wirklich am Herzen liegt.»
Was die Entwicklung bei der Wahrnehmung der Nichtmutterschaft betrifft, beobachtet Edith Vallée heute ein durchlässigeres Verhältnis zwischen Müttern und Nichtmüttern: «Es scheint Mütter zu beruhigen, dass es Frauen gibt, die ein erfülltes Leben ohne Kinder führen. Das beflügelt die Mütter, sich auf andere Weise zu verwirklichen, sobald es für sie möglich ist. Sie haben weniger Schuldgefühle und werden sich darüber bewusst, dass auch sie etwas anderes tun dürfen. Es stellt sich eine Form von Respekt ein. Allerdings gilt dies nur für Frauen reiferen Alters. Die heutigen 30-Jährigen sind leider immer noch mit demselben gesellschaftlichen Druck konfrontiert.»
«Junge Eltern sind nicht weniger gesund»
Warum gibt es einen hohen Anteil an kinderlosen Frauen in der Schweiz?
Früher hing er hauptsächlich mit dem hohen Anteil der alleinstehenden Frauen auf dem Land und in den Alpentälern zusammen. Im internationalen Vergleich bleibt der Anteil der kinderlosen Frauen in der Schweiz hoch, er steigt aber nicht, und die Kinderlosigkeit scheint auch nicht mit einem Lebensprojekt zusammenzuhängen. Es gibt zwar viele Männer und Frauen ohne Kinder, aber bei nur sehr wenigen von ihnen fiel die Entscheidung gegen Kinder bewusst. Die Gründe sind vielfältig und komplex: Manche Menschen studieren sehr lange, andere werden von ihrem Beruf vereinnahmt, wieder andere finden einfach keinen geeigneten Partner oder Partnerin.
Sie haben die Verbindung zwischen Elternschaft und Lebensqualität analysiert. Zu welchen Resultaten sind Sie gekommen?
Unsere Ergebnisse bestätigen für die Schweiz, dass junge Eltern mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten konfrontiert sind, im Alltag dem Druck der familiären Aufgaben unterliegen und Beruf und Familienleben nur schwer miteinander vereinen können. Doch trotz Müdigkeit und Stress wirken sich Kinder nicht auf ihr allgemeines Wohlbefinden aus: Die jungen Eltern nehmen ihre Gesundheit nicht als schlechter wahr als Personen ohne Kinder.
Und wie steht es um die Personen, die keine Kinder haben?
Ich dachte, dass sich Menschen ohne Kinder eher an ausserberuflichen Aktivitäten oder ehrenamtlichen Tätigkeiten beteiligen. Unsere Ergebnisse zeigen aber, dass das Älterwerden ohne Kinder mit einer schlechteren gesellschaftlichen Einbindung einhergeht. Ich war erstaunt darüber, wie viel weniger Sozialkontakte und Verpflichtungen Personen ohne Kinder haben. Daraus kann man ableiten, dass Kinder beim Aufbau starker und für das Leben im Alter nützlicher sozialer Bindungen eine wichtige Rolle spielen. /ade
Claudine Sauvain-Dugerdil ist Professorin für Familiendemografie an der Universität Genf. Sie hat 2018 den Artikel Une vie florissante sans enfant? Le cas de la Suisse publiziert.
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