Psychoscope-Blog – «Der tragisch missverstandene Blumenkohl»
Dieser Blumenkohl ist die einmalige Original-Antwort eines depressiven brasilianischen Farmers, der als einer von Tausenden von Menschen in verschiedenen Kontinenten mit dem Bild deutenden Rorschach-Test zu seiner Persönlichkeit untersucht wurde.
Allein schon die Aufforderung zu den vorgelegten Tintenkleckstafeln hinzuschauen und zu sagen, was man sieht, ermöglicht es, «Aspekte emotionaler und zwischenmenschlicher Funktionen zu messen, die von anderen Begutachtungsverfahren nicht so gut erfasst werden», schreibt Damon Searls in seinem Buch «Im Auge des Betrachters – Hermann Rorschach und sein bahnbrechender Test» (2019).
1921 publizierte der Schweizer Psychiater Hermann Rorschach (1884-1922) zehn Bild-Tafeln in einer «Psychodiagnostik»-Mappe, einem Persönlichkeitstest zur psychologischen Einschätzung von gesunden und psychisch kranken Menschen. Im schneereichen Winter ein Jahr später verstarb er tragischerweise an einem Blinddarmdurchbruch zuhause in Herisau.
Das Spezifische und das Potential eines Menschen
Hermann Rorschach war als Sohn eines ostschweizer Zeichenlehrers künstlerisch begabt, erlernte seinen Beruf als Nervenarzt und Freud’scher Psychoanalytiker bei Eugen Bleuler und C.G. Jung an der international renommierten Klinik Burghölzli in Zürich. Nach vielseitiger Assistenzzeit in Kliniken der Deutschschweiz und in Russland, kombiniert mit Forschungsarbeiten zur freien Assoziation, wurde er 1919 Vizepräsident der Schweizerischen Gesellschaft für Psychoanalyse.

Hermann Rorschach «besass die wunderbare Fähigkeit, eine Verbindung zu seinen Patienten herzustellen und half ihnen mit allen möglichen Mitteln aus dem Panzer ihrer Paranoia oder ihres katatonischen Wahns herauszugelangen» (Searls 2019). Mit dieser professionellen Haltung, das Spezifische und das Potential eines Menschen zu entdecken, in Verbindung mit beobachtbarem Verhalten, konzipierte er auch seinen Test. Er war überzeugt davon, dass die Psychologie der freien Assoziation auf einem physiologischen Fundament ruhte – der Wahrnehmung. Er erforschte deshalb den Zusammenhang zwischen Sehen und Fühlen – in Bewegung, Form und Farbe.
Seit der computerbasierten Auswertungsmethode des amerikanischen Psychologen John E. Exner Jr. (1928-2006) entspricht heute der Rorschach-Test «objektiver Wissenschaftlichkeit» (Searls 2019). Die Validität dieses erstrangigen Persönlichkeitstests ist nach vielerlei mangelhaften Auswertungsnachweisen damit erwiesen. In den 100 Jahren, seitdem der Rorschachtest angewendet wird, hat deshalb all das, was Patienten in den Klecksbildern sehen, seine Gültigkeit. Aber der Rorschach-Test wird kaum mehr angewendet – weshalb?
2011 publizierten Mitarbeiter nach Exners Tod das «Rorschach Performance Assessment System» (R-PAS) mit veränderten, statistisch geeigneteren Durchführungsregeln. Doch wer will im heutigen Zeitalter der zeitsparend standardisierten Multiple-Choice-Symptom-Fragebögen und der bild-gebenden Verfahren zu Hirnaktivitäten noch eine Persönlichkeitseinschätzung – zwar fachlich differenziert, aber ökonomisch ineffizient?
Grosse Popularität
Zuvor haben der deutsche Entwicklungspsychologe und Jungianer Bruno Klopfer (1900-1971) und der amerikanische Psychologe Samuel Jacob Beck (1896-1980) Rorschachs Formdeuteverfahren so verfeinert, wie es über Generationen in mehrjährigen Kursen international an den Universitäten gelehrt und anschliessend den Patienten von Psychologen, Psychiatern und Psychotherapeuten weltweit zur diagnostischen Einschätzung gedient hat. Die Popularität des sprachunabhängigen Rorschach-Tests war so gross, dass er auch in der ethnologischen Beforschung fremder Kulturen ab 1930 ausgiebig und weltweit Anwendung fand – bedauerlicherweise mitsamt den westlichen Interpretationsbegrenzungen, schreibt Hubertus Büschel in «Der Rorschach-Test reist um die Welt» (2021).
Doch der Rorschach-Test – inzwischen auch neurologisch vielfach validiert (z.B. Porcelli et al, 2013) – gehört nicht mehr zur Standard-Ausbildung an den Universitäten. Dieser hochqualifizierte, aber immer noch zeitaufwändige Persönlichkeitstest wird nun weniger in der Klinik und Forensik, sondern hauptsächlich nur noch in der Forschung angewandt. Hier bieten die «offenen» Ergebnisse des Rorschach-Tests eine wahre Fundgrube für Verborgenes bei psychischen Fragestellungen wie beispielsweise zur Alzheimer Demenz, die in der Regel neurophysiologisch untermauert werden können (Searls 2019).
Dies zeugt von der herausragenden Qualität von Hermann Rorschachs Psychodiagnostik-Tafeln und den Auswertungssystemen von Klopfer, Beck und Exner, mit denen auch 100 Jahre nach Rorschachs Tod bei uns Menschen – krank oder gesund – nach wie vor Spezifika und Potentiale entdeckt werden können.
Literatur
Beck, S. J. (1976). The Rorschach Test: Exemplified in Classics of Drama and Fiction. New York: Stratton Intercontinental Medical Book.
Büschel, H. (2021). Der Rorschach-Test reist um die Welt. Gobalgeschichten aus der Ethnopsychoanalyse. Wien: Turia + Kant.
Porcelli, P., Giromini, L., Parolin, L., Pineda, J. A., & Viglione, D. J. (2013). Mirroring Acitvity in the Brain and Movement Determinant in the Rorschach Test. J Pers Assess, 95(5), 444-456.
Searls, D. (2019). Im Auge des Betrachters. Hermann Rorschach und sein bahnbrechender Test. München: btb, Random House GmbH
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