Psychoscope Blog – Es gibt keine dauerhafte Diagnose

Françoise Genillod-Villard
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Bei kriegstraumatisierten Kindern reicht das Konzept der Diagnose nicht dazu aus, alle erlebten psychischen Probleme zu beschreiben.
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Françoise Genillod-Villard
Fachpsychologin für Rechtspsychologie FSP
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Eine 1999 im Libanon durchgeführte Studie über Kriegsauswirkungen auf Kinder hat bereits gezeigt, dass das Ereignis Krieg alleine nicht ausreicht, um Störungen beim Kind zu erklären. Vielmehr werden diese Störungen durch den Ausfall des familiären Umfelds verursacht, wenn die Eltern ihre unterstützende Rolle nicht mehr spielen können. Da dem Kind in diesem Fall die ausreichend abgesicherte Verbindung fehlt, kann es sich nicht korrekt entwickeln. 

Anhand dieser Forschungsergebnisse konnten die psychologischen Helfer nach der Bombardierung des südlibanesischen Dorfes Kana im Jahr 2006 ihre Praxis bei den etwa 1.000 betreuten Kindern entsprechend anpassen. Dabei stellten sie fest, dass die Diagnose «posttraumatische Belastungsstörung» weder die Probleme der traumatisierten Kinder noch die Komplexität der Interaktionen zwischen Kind und Umwelt umfasst. Für die Psychologinnen und Psychologen bedeutet die Hinterfragung einer Diagnose eher, über das familiäre Umfeld und insbesondere über dessen Qualität nachzudenken als den Versuch zu unternehmen, eine Diagnose zu stellen und das Kind in eine Kategorie einzuordnen: «Die klinische Praxis bei Traumata zu überdenken, hat uns dazu gebracht, die Normalität als dynamischen Anpassungsprozess des Kindes an seine Umwelt zu sehen, wobei sich die Kreativität des Kindes bei der Bewältigung seiner Herausforderungen in diesem Prozess niederschlägt», so die Autorin.

Unterschiedliche Reaktionen

Nach der Bombardierung von Kana wurden in Beirut und im Südlibanon medizinisch-psychologische Beratungszentren eingerichtet. Die Beratungen wurden von einem multidisziplinären Team (Psychiater, Psychologen, Sozialarbeiter) ambulant und mit psychotherapeutischer Unterstützung durchgeführt. Vom 1. August 2006 bis zum 31. Dezember 2007 wurden 265 Kinder zwischen sechs und zwölf Jahren behandelt. Alle hatten Stress erlebt. Die Diagnosen waren sehr vielfältig: Störungen des Sozialverhaltens, Angststörungen, hyperkinetische Störungen, somatoforme Störungen, depressive Phasen, sonstige Verhaltensstörungen, spezifische Lernstörungen, Reaktionen auf einen grossen Stressfaktor. Etwa 27 Prozent der Kinder ging es aber zum Bewertungszeitpunkt gut, und bei einigen der anderen Kinder reichten die Kriterien für eine Diagnosestellung nicht aus. Die Autoren sprechen in diesem Fall von «unvollständigen» Fällen, die offensichtlich immer häufiger auftreten. Bei wieder anderen Kindern war bei der Untersuchung überhaupt kein Kriterium zu beobachten. Bei der Einschätzung des familiären Umfelds zeigte sich dann, dass das Vorhandensein einer günstigen Umgebung den Kindern die Resilienz ermöglicht hatte. Dies bedeutet, dass die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung nicht ausreicht, um die Probleme der traumatisierten Kinder zu beschreiben.

Antoine, sechs Jahre

Dies kann anhand des Falls des sechsjährigen Antoine illustriert werden. Als Antoine in Begleitung seiner Mutter zum ersten Mal in die Konsultation kam, litt er unter einem hyperkinetischen Syndrom. Seine Mutter hatte als Jugendliche ihre gesamte Familie verloren, als eine Granate auf die Wohnung ihrer Eltern geworfen wurde. Dem Angriff fielen Ihre Eltern, ihr Bruder und ihre Schwester zum Opfer. Von Geburt an wurde Antoine vor einer Welt «geschützt», die seine Mutter als feindlich empfand und in der jeglicher Versuch des Kindes, selbstständig zu werden, als sehr gefährlich erlebt wurde. Als sich Ablösung und Autonomieentwicklung nicht mehr vermeiden liessen und Antoine in den Kindergarten gehen musste, reagierte er mit massiven Ängsten und Verhaltensstörungen. In dieser Zeit traten Krampfanfälle und epileptische Anfälle auf. 
 

«Alle Unglücke, die sie selbst als Jugendliche in Not erlebt hatte und vergessen wollte, waren bei ihrem Sohn wieder an die Oberfläche gekommen (...). Der Sohn kämpfte darum, etwas abzuschütteln, was nicht ihm gehörte.»

In den Gesprächen mit der Mutter zeigte sich: «Alle Unglücke, die sie selbst als Jugendliche in Not erlebt hatte und vergessen wollte, waren bei ihrem Sohn wieder an die Oberfläche gekommen (...). Der Sohn kämpfte darum, etwas abzuschütteln, was nicht ihm gehörte.» Antoines Instabilität konnte als Versuch verstanden werden, sich den unbewussten Projektionen seiner Mutter zu entziehen.» Nach einigen Sitzungen konnte die Mutter ihr eigenes Trauma bearbeiten und den Bildern und Gefühlen einen Sinn geben. Diese neue Eigenverantwortung war sowohl für die Mutter als auch für Antoine gut. Er konnte sein Verhalten verbessern.

Diese Analyse zeigt, dass keine Diagnostik für sich alleine die gesamte klinische Realität beschreiben kann. Würde dies versucht, könnte es sogar zur Stigmatisierung des Kindes und zu falschen Überzeugungen führen und damit den geeigneten Aufbau der therapeutischen Verbindung verhindern. Sinnvoller erscheint es, sich auf die Bindungstheorie zu stützen, welche die Verbindungen berücksichtigt, durch die eine Sicherheitsbasis entsteht. Laut der Autorin können mit diesem Ansatz auch Kinder behandelt werden, denen es bei der Einschätzung gut ging, die jedoch zu einem späteren Zeitpunkt in Not geraten könnten. Es gibt keine dauerhafte Diagnose, sondern die Diagnose verändert sich im Zeitverlauf. Es handelt sich um einen dynamischen Prozess, der mit der Entwicklung des Kindes Hand in Hand geht. Dieses wächst auf und entwickelt Strategien dafür, die Schwierigkeiten im Leben zu überwinden. 

Studie

Gannagé, M. (2019). La clinique du traumatisme chez l’enfant de la guerre s’accorde-t-elle avec la notion de diagnostic ? Bulletin de psychologie, 72(1), 29-36.

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Françoise  Genillod

Françoise Genillod

11/11/2019

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