Psychoscope-Blog – Helikoptereltern hier – Vernachlässigung da
Im Gegensatz dazu fallen überbehütende Eltern, sogenannte Helikoptereltern, mit ihren verhaltensauffälligen Kindern eher auf. Allan Guggenbühl (2020), Professor an der Pädagogischen Hochschule Zürich und Experte in der Gewaltprävention, hat diesen Eltern im ersten Jahr der Corona-Epidemie geraten, «Kinder brauchen ein gesundes Mass an Vernachlässigung».
«Vernachlässigen» hat jedoch gemäss Duden in Beziehungen die Bedeutung, «jemandem nicht genügend Aufmerksamkeit widmen; sich nicht, zu wenig um jemanden kümmern». Laut Kai von Klitzing (2022), Professor für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie an der Universität Leipzig und jahrzehntelanger Forscher zu Eltern-Kind-Beziehungen, nimmt eine Form von Kindesmisshandlung schleichend aber deutlich zu. Sie gelangt jedoch in der Fachliteratur und in den Medien kaum ins Blickfeld. Nach dem ersten Lockdown wurden im Frühjahr und Sommer 2021 «Ambulanzen und Kliniken überschwemmt mit Anmeldungen von Kindern in grösster Not. Nicht eine breite Zunahme von psychischen Störungen war und ist das Hauptproblem, sondern vielmehr der Umstand, dass Kinder, die sowieso schon in prekären Verhältnissen lebten, nunmehr immer schwerer beeinträchtigt waren» (Vorwort).

In von Klitzings Buch «Vernachlässigung» (2022) stehen mit vielen eindrücklichen Fallbeispielen die Ursachen dieser Misshandlungen und die therapeutischen Möglichkeiten für diese Kinder mit ihren Eltern in den Fokus - in Medizin, Psychologie, Psychotherapie, Sozialpädagogik und Rechtssprechung.
Fallbeispiel: Ein 13-jähriges Mädchen lebte völlig vereinsamt im Haushalt überforderter Eltern. Im ersten Lockdown war sie plötzlich ihrer wichtigen Kontakte in der Schule und mit Lehrer:innen und Gleichaltrigen beraubt. Sie begann, sich in der Einsamkeit um sich selbst zu drehen, machte täglich über Stunden Turnübungen und zählte Kalorien, um ihren Körper mehr dem anzugleichen, was sie als gesellschaftliches Ideal erlebte. Als sie nach der Wiedereröffnung wieder in die Schule ging, war sie lebensbedrohlich abgemagert, ohne dass ihre Eltern irgendetwas bemerkt hatten.
Biologische oder soziale Ursachen?
«Die Kontroverse, ob psychische Symptome und Störungen primär biologisch zu verstehen sind oder als Folge sozialer Erfahrungen entstehen, ist spätestens seit den bahnbrechenden Erkenntnissen zur Bedeutung der Epigenetik hinfällig. Gerade negative Erfahrungen während der frühen Kindheit haben einen immensen Einfluss nicht nur auf die Gehirnarchitektur, sondern auch auf die Aktivität bestimmter Gene, welche die menschliche Stressregulation steuern. Diese Erkenntnisse stützen die Sicht, dass biologische, psychische und soziale Prozesse intensiv zusammenwirken und nur miteinander verstanden werden können (Vorwort)».
Von Klitzings Buch gliedert sich in zwei Teile – Diagnostik, resp. das Problem und die Behandlung:
Teil 1. Das Problem – Sieben Kapitel geben Aufschluss zu Definitionen, Formen, Prävalenz und interkultureller Sicht; zu psychischen, sozialen und biologischen Aspekten der Elternkompetenz; zu körperlichen und psychischen Vernachlässigungsfolgen beim Kind; zu neuro- und verhaltensbiologischen Auswirkungen der Vernachlässigung; zu vernachlässigten Kindern in der Jugendhilfe und zum psychischen Erleben des vernachlässigten Kindes.
Teil 2. Die Behandlung – Drei Kapitel verschaffen einen Überblick zu psychoanalytischen Behandlungsansätzen; mit Empfehlungen zu Kindesschutz, Betreuung und Hilfen zur Erziehung und mit dem Behandlungsmanual «Individualisierte Kind- und Elternorientierte Therapie (iKET) (S. 144-234). Die gestuften Therapieempfehlungen richten sich nach den elterlichen Fähigkeiten zur Mentalisierung (Fonagy et al, 2004) und zur triadischen Beziehungskapazität (von Klitzing, 1999, 2019, 2002).
Ein höchst empfehlenswertes Buch für Fachpersonen, die sich interprofessionell um die Behandlung solch psychischer Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen kümmern, damit sich diese auch transgenerationell nicht wiederholen.
Literatur
Fonagy, P., Gergely, G., Jurist, E., & Target, M. (2004). Affektregulierung, Mentalisierung und Entwicklung des Selbst. Stuttgart: Klett-Cotta.
Guggenbühl, A. (2020).«Kinder brauchen ein gesundes Mass an Vernachlässigung». Fritz&Fränzi – Das Schweizer Eltern Magazin, 23. August 2020.
von Klitzing, K. (2022). Vernachlässigung. Betreuung und Therapie von emotional vernachlässigten und misshandelten Kindern. Stuttgart: Klett-Cotta.
von Klitzing, K. (2019). Reaktive Bindungsstörungen. Switzerland: Springer Nature.
von Klitzing, K. (2002). Frühe Entwicklung im Längsschnitt. Von der Beziehungswelt des Kinds zur Vorstellungswelt des Kindes. Psyche, 56, 863-887.
von Klitzing, K., Simoni, H., & Bürgin, D. (1999). Infant development and early triadic family relationships. Int J Psychoanalyse, 80, 71-89.
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