Psychoscope Blog – Inhaftierte Frauen besonders gefährdet

Françoise Genillod-Villard
Psychoscope-Blog
Eine schweizerische Studie stellt fest, dass Frauen im therapeutischen Massnahmenvollzug besonders stark von psychischen und somatischen Beschwerden sowie sozialen Problemen betroffen sind.
Bild
 
Françoise Genillod-Villard
Fachpsychologin für Rechtspsychologie FSP
/francoise-genillod-villard

Wie Studien aus dem Ausland bereits gezeigt hatten, unterscheiden sich delinquente Frauen von delinquenten Männern in mehrfacher Hinsicht. Daher erscheint es wichtig, ein besseres Verständnis für die Bedürfnisse und Besonderheiten dieser Frauen zu gewinnen, um ein möglichst angemessene Versorgung mit dem Ziel der Wiedereingliederung zu gewährleisten. Dieses Ziel steht im Einklang mit Art. 75 Abs. 1 StGB, in dem die allgemeinen Grundsätze für den Straf- und Massnahmenvollzug dargelegt werden: Rückfallprävention nach Ende des Vollzugs, Normalisierung, Entgegenwirken der schädlichen Folgen des Freiheitsentzugs, erforderliche Fürsorgepflicht und Rückfallprävention während des Freiheitsentzugs.

Eine quantitative Forschung an zu einer stationären therapeutischen Massnahme nach Artikel 59, 60, 61 und 63 des Strafgesetzbuches (StGB) verurteilten Frauen zeigt nun das soziodemografische Profil von Frauen im Strafvollzug auf. Besonders berücksichtigt wurden Aspekte der Viktimisierung, traumatische Elemente in der Kindheit und/oder im Erwachsenenalter, psychische Beschwerden, Diagnosen und die Art des Vergehens. Überdies wurden verschiedene Frauengruppen (aufgeteilt nach Strafmassnahme) verglichen. Die Studie wurde in Zusammenarbeit mit dem Forensisch-Psychiatrischen Dienst (FPD) der Universität Bern erstellt. Zu den Aufgaben des FPD gehört die psychotherapeutische Versorgung der Häftlinge in den Gefängnissen des Kantons Bern (Bern, Thun, Burgdorf und Hindelbank). Die Forschenden der Universität Bern hatten Zugang zu den Akten aller Frauen, die der FPD seit 1996 mindestens einmal gesehen hat. Rund 220 Frauen bilden das Panel dieser retrospektiven Studie, die auf der Auswertung der jeweiligen Akten beruht (von Februar 2014 bis Dezember 2015). Rund 28 dieser Frauen waren zu einer therapeutischen Massnahme nach Artikel 59 StGB verurteilt worden, 56 nach Artikel 60 StGB, 6 nach Artikel 61 StGB und 130 nach Artikel 63 StGB.

Die Ergebnisse stellen sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede zwischen diesen Frauengruppen heraus. Zu den Unterschieden zählt, dass Frauen mit einer Massnahme nach Art. 59 StGB älter, häufiger alleinstehend und am häufigsten Bezügerinnen einer IV-Rente sind. Die Dauer ihrer Massnahmen ist deutlich länger und die Diagnosen sind schwerwiegender (Persönlichkeitsstörung und Psychose). Weitere Unterschiede betreffen die Vergehen selbst, mit einer höheren Anzahl strafbarer Handlungen gegen Leib und Leben (schwere Körperverletzung, vorsätzliche Tötung und Mord). In den anderen Gruppen ist die Zahl der Verstösse gegen das Betäubungsmittelgesetz besonders hoch.

Das Strafgesetzbuch regelt die Anwendung therapeutischer Massnahmen. Therapeutische Massnahmen nach Artikel 59, 60 und 61 StGB richten sich an Täterinnen und Täter, die ein Verbrechen oder Vergehen begangen haben, das mit einer schweren psychischen Störung (Art. 59 StGB) oder einer Abhängigkeit (Art. 60 StGB) in Zusammenhang steht, die zum Zeitpunkt der Tat noch nicht 25 Jahre alt waren und die in ihrer Persönlichkeitsentwicklung erheblich gestört sind (Art. 61 StGB). In diesen drei Fällen kann richterlicherseits unter bestimmten, im Strafgesetzbuch definierten Voraussetzungen eine Unterbringung in einer Einrichtung angeordnet werden. Therapeutische Massnahmen nach Artikel 63 StGB sind ambulante Massnahmen und betreffen Täterinnen und Täter, die psychisch schwer gestört oder abhängig sind.

Gemeinsamkeiten sieht die Studie bei spezifischen Merkmalen, die auf eine besondere Gefährdung hinweisen, wie traumatische Erlebnisse in der Kindheit und im Erwachsenenalter (Vernachlässigung, erheblicher Mangel an emotionaler Zuwendung, Erleiden und/oder Miterleben von Gewalt, Suchtverhalten eines Elternteils). In allen Gruppen war die Rate der Suizidversuche besonders hoch. Das Gleiche gilt für den Konsum von Produkten (Drogen und Alkohol) sowie für selbstverletzendes Verhalten (Verstümmelung, Ritzen).

Die Studie hat ihre Grenzen, aber die besondere Gefährdung von inhaftierten Frauen, die sie aufzeigt, stimmt mit den Befunden vorangegangener Studien aus anderen Ländern überein.  Die Problematik betrifft im Übrigen nicht nur Gefängnisse. Sie findet sich auch in sozialen Einrichtungen wieder, von denen einige mit Frauen arbeiten, die Gegenstand einer strafrechtlichen Massnahme sind. Die Geschlechterforschung konnte spezifische Merkmale und Bedürfnisse herausstellen, die es Fachpersonen ermöglichen, ihre Praxis vor Ort entsprechend anzupassen. Eine solche Anpassung ist dringend erforderlich, wenn zwei grundsätzliche Ziele erreicht werden sollen: die Gesundung der Person und ihre Wiedereingliederung in die Gesellschaft ohne Rückfall.

Studie
Krammer, S., Weber, J., Warnke, I., & Liebrenz, M. (2018). Frauen mit einer Massnahme nach Artikel 59, 60, 61 oder 63 StGB. Revue suisse de criminologie, 2, 33–47. 

Kommentare

Die Kommentare sollen einen konstruktiven Dialog ermöglichen und die Meinungsbildung und den Ideenaustausch fördern. Die FSP behält sich das Recht vor, Kommentare zu löschen, die nicht diesen Zielen dienen.

Françoise  Genillod

Françoise Genillod

12/11/2019

Je vous conseille de regarder en ligne ( play RTS) le reportage de Temps Présent du 24.10.2019: Femmes après la prison /sexe, drogue, taule: la spirale infernale.

Françoise  Genillod

Françoise Genillod

11/11/2019

Et vous ? dans votre pratique, relevez vous également ce constat?

Kommentar hinzufügen