Psychoscope-Blog – Präverbale Psyche: Ein Kontinuum vom Säugling bis zum Erwachsenen

Miriam Vogel
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In seinem neuesten Buch beschreibt Dieter Bürgin «Die Vitalität der präverbalen Psyche – Psychoanalytische Konzepte über das erste Lebensjahr: der Aufenthalt und die Arbeit am Unentfalteten».

Es ist ein Reader. Dem «analytischen Menschen» wird darin die psychische Normalentwicklung ebenso vor Augen geführt wie erklärende Veranschaulichungen zu Traumatisierungen und Möglichkeiten ihrer Verarbeitung – in der Entwicklung mit Bezugspersonen wie auch in der psychoanalytischen Behandlung. 

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Miriam Vogel
Dr. phil.
Fachpsychologin für Psychotherapie FSP, Fachpsychologin für Klinische Psychologie und Fachpsychologin für Kinder- und Jugendpsychologie
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Auf einzigartige Weise versteht es Bürgin, die Entwicklung der präverbalen Psyche in der ersten Lebenszeit und in ihren lebenslangen unbewussten Auswirkungen darzustellen. Mit dem Blick in das individuell Psychische im wechselseitig Erfahrbaren durchleuchtet er dies theoretisch ganz präzise und ebenso anschaulich in eindrücklichen Beispielen aus Therapien, Beobachtungen und der Weltliteratur. Er legt dabei seinen Fokus auf die wechselwirkende Bezogenheit des Säuglings mit seinen Bezugspersonen ebenso wie in der wechselseitigen Erfahrung einer psychoanalytischen Behandlung.

Der Reader dient der Leserin und dem Leser zur anregenden Vertiefung von bereits vorhandenem Fachwissen und führt gleichzeitig in eine Thematik ein. Er bietet in zwei Bereichen - «Früheste Entwicklungskonfigurationen» und «Frühe Ich-Entwicklung» - mit vorangestellten Kurzzusammenfassungen in 45 Kapiteln einen individuellen Leseeinstieg – je nach Interesse. 
 

Zu den zentralen psychoanalytischen Forschungsthemen des Unbewussten und des Traumatischen fügt Bürgin die konzeptionelle Vielfalt der internationalen Psychoanalyse seit Freud zusammen und verbindet diese mit den Erkenntnissen der Neurobiologie und der Säuglingsforschung. Er versteht es meisterhaft, divergierende Konzepte in der praktischen Bedeutung für die Kindesentwicklung nachvollziehbar zu verknüpfen und allgemeinsprachlich zu beschreiben. Beispielsweise Konzepte wie psychische Struktur- und Triebentwicklung, Spiegelungsphänomene, Abwehrformen, Repräsentanzenbildung, Symbolisierungsebenen und Identitätsentwicklung. Mit Blick auf das Psychische im frühen Handlungserleben des Menschen veranschaulicht er dazugehörende förderliche oder beeinträchtigende Beziehungserfahrungen.

Im Vorwort beschreibt Bürgin, wie sich bei ihm als forschendem Psychoanalytiker «sein immer wieder transformiertes Wissen und seine berufliche wie auch persönliche Erfahrung zusammensetzt. (...) Das Erlebnis, dass der analytische Wissens- und Erfahrungskorpus für Säuglinge, Kinder, Jugendliche und Erwachsene der gleiche ist, wenngleich sich gewisse technische Unterschiede im Setting ergeben, wird, neben den mehr strukturellen Fixpunkten, der dynamischen Zeitreise durch den Lebenszyklus und zurück einen persönlichen Schwung verleihen.» 

In die Zukunft blickend hält er fest: «Mit dem Konzept ‘Entwicklung’ im Auge, findet die Psychoanalyse breite Verbindungen zu anderen Wissenschaften, wird durch diese befruchtet und kann aus ihrem Kenntnis- und Erfahrungsschatz auch viel zur Bereicherung anderer Wissenschaften beitragen. Die Säuglinge und Kleinkinder helfen ihr, den elfenbeinernen Turm zu verlassen und im Kontakt zu anderen Welten etwas fruchtbares Drittes zu erzeugen.»

Prof. em. Dr. med. Dieter Bürgin, war Ordinarius und langjähriger Chefarzt der Psychiatrischen Universitätsklinik für Kinder und Jugendliche in Basel und Forschungsexperte des Schweizerischen Nationalfonds. Er ist Ausbildungsanalytiker der Schweizerischen Gesellschaft für Psychoanalyse (IPA), in verschiedenen internationalen Gremien tätig und Autor zahlreicher Fachpublikationen und Bücher.

Literatur

Bürgin, D. (2022). Die Vitalität der präverbalen Psyche – Psychoanalytische Konzepte über das erste Lebensjahr: der Aufenthalt und die Arbeit am Unentfalteten. Frankfurt a.M.: Brandes & Apsel. 

Bürgin, D., Staehle, A., Westhoff K., & von Ballmoos, A. (2020). Psychoanalytische Grundannahmen. Vom analytischen Hören im klinischen Dialog. Frankfurt a.M.: Brandes & Apsel. 
 

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