Psychoscope-Blog – Psychisches Wachsen – In Alltag, Psychoanalyse und Kunst
«Dank dem Zeitalter der Aufklärung haben sich Wissenschaften revolutioniert und dem Menschen enorme Fortschritte gebracht. Als Folge dieser Entwicklung wurde nur eng begriffliches Denken als wissenschaftlich wertvoll erachtet. Das hat zu einer Spaltung in empirische und nicht empirische Forschung geführt, mit negativen Auswirkungen vor allem für die Medizin und die Psychologie. Der Mensch wurde in Körper und Geist, in Leib und Seele aufgeteilt. So haben zum Beispiel hermeneutische und linguistische Vorgehensweisen, dem Anspruch begrifflichen Denkens folgend, seelische Phänomene mit ausschliesslich bewusstem sekundärprozesshaftem Denken beschrieben. Unbewusste Vorgänge wurden dabei nicht berücksichtigt» (Andina-Kernen 2021, S. 117).
Demgegenüber beschreibt Andina-Kernen Erleben, Wahrnehmen und Verstehen von Unbewusstem im Alltag, in der Psychoanalyse und in der Kunst dazu, wie Symbolisierungen, Repräsentanzen und Metaphern sich bilden und seit Menschengedenken Sinn stiften. «Innere Bilder des Vor- und Unbewussten bilden eine Nährlösung, aus der sich das Denken in begriffliche Worte kristallisiert, ohne diesen nährenden Bildervorrat aufzulösen. (...) Die Tragweite der Fantasietätigkeit des Menschen hat damit einen Stellenwert, der gemeinhin unterschätzt wird. Es gilt, das Potential des Imaginierens in allen Bereichen stärker zu gewichten» (S. 118).

Im Alltag, «während wir unser eigenes Verhalten im Erwachsenenalter beobachten und unsere eigenen Empfindungen wahrnehmen, realisieren wir unsere Wünsche und Bedürfnisse. Wir können sie in uns, in unserem Innenraum, bewegen und darüber nachdenken. Wir überlegen, was sich davon in der realen Welt umsetzen liesse, welches Vorgehen geeignet wäre oder worauf wir allenfalls verzichten müssten. Bei diesem Nachdenken befinden wir uns fortwährend in einem Zwiegespräch mit uns selbst» (S. 113) und verbinden uns entsprechend mit unserer Umwelt. Wir entwickeln diese Fähigkeiten zu Selbstreflexion und Selbstverwirklichung in Verbindung mit der Umwelt ab Beginn unseres Lebens mithilfe von inneren Repräsentanzen.
In der Psychoanalyse können «Menschen, die sich dem assoziativen inneren Bilderstrom überlassen können», ohne davon retraumatisiert zu werden, «mit dem wahrhaftig Empfundenen in gutem Kontakt bleiben» und über das unerwünscht Wiederholte «hinauswachsen» (S. 119). Bedingung ist, dass zwischen Therapeut und Patient «ein intermediärer Raum entsteht, in dem sich objektiv Äusseres und subjektiv Inneres – was ist und nicht ist – begegnen und verschränken. Es ist ein Zwischenbereich, in dem sich Übergangsphänomene, Übergangssubjekte und Übergangsobjekte entwickeln. Sie sind sowohl materielle Objekte, also etwas wirklich Existierendes, als auch gleichzeitig etwas nicht wirklich Existierendes, nämlich das, was sie repräsentieren – das Abwesende» (S. 114).
In der Kunst entsteht ähnlich wie im Alltag – aber umgekehrt in der inneren zeitlichen Dimension – «künstlerisches Schaffen in einem Zustand von Ergriffenheit, einem Zustand des Überwältigtwerdens durch starke Gefühle, zum Beispiel nach der Erfahrung eines Verlusts. Der Kunstschöpfer wird in der fruchtbaren» psychischen «Regression von sinnlicher Wahrnehmung und inneren Regungen, Eindrücken und Erinnerungen überschwemmt. Im komplexen Austausch zwischen Innen und Aussen, zwischen Phantasie und Realität, zwischen Vision und Materie» fliessen unbewusste Wunschvorstellungen und abwehrende Kräfte dazu mit ein, «die sich zu einem Kompromiss in einer sinnlich wahrnehmbaren Form verkörpern. Im entstandenen Werk eröffnet sich ein Raum von Potentialität. Obwohl dieser Raum Energetisches, Affektives, Unbestimmtes und Mehrdeutiges enthält, wird unser Blick in eine bestimmte Richtung gelenkt, die Sinn generiert. Es wird eine sinnlich erfahrbare Erkenntnis vermittelt, die im Beziehungsfeld zwischen Schöpfer, Werk und Rezipient einen bewegenden Austausch von Assoziationen auslöst» (S. 117).
Die Präzision, mit der Andina-Kernen die Vielfalt der psychoanalytischen Theorien seit Freud zum Thema «psychisches Wachsen» verbindet – ebenso wie die Beschreibung ihres methodischen Vorgehens in ihrer Arbeit mit Patienten – ist beeindruckend.
Literatur
Andina-Kernen, A. (2021). Psychisches Wachsen. Symbolisierung, Metapher und künstlerisches Schaffen aus psychoanalytischer Sicht. Basel: Schwabe.
Andina-Kernen, A. (2017. Vom Zauber der Worte. Zum Sprung vom Somatischen ins Psychische und zur Bedeutung von Metaphern. ZPTP, 32, 2/3, 125-217.
Andina-Kernen, A. (1996). Über das Entstehen von Symbolen. Basel: Schwabe).
Kommentare
Die Kommentare sollen einen konstruktiven Dialog ermöglichen und die Meinungsbildung und den Ideenaustausch fördern. Die FSP behält sich das Recht vor, Kommentare zu löschen, die nicht diesen Zielen dienen.