Psychoscope-Blog – Psychosoziale Risiken am Arbeitsplatz

Sibylle Galliker
Forschung
Psychoscope-Blog
Arbeitsbedingungen, Gesundheit und Bindung von Arbeitnehmenden ans Unternehmen: Wie wirksam sind Interventionen auf Organisationsebene?

Psychosozialen Risiken am Arbeitsplatz beinhalten Aufgabenmerkmale, Arbeitsprozess- und Kooperationsbedingungen sowie berufliche soziale Beziehungen, die Gesundheitsbeeinträchtigungen verursachen können. Fehlende Autonomie, Zeitdruck, Arbeitsunterbrechungen oder Konflikte mit Arbeitskolleginnen und -kollegen sind einige Beispiele von psychosozialen Risiken. Psychosoziale Risiken können nebst Gesundheitsbeeinträchtigungen, Abnahme der Arbeitszufriedenheit oder Verschlechterung des Betriebsklimas auch hohe materielle Kosten für Arbeitgeber verursachen beispielsweise durch Absentismus, verminderte Produktivität und erhöhte Fluktuation. 

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Sibylle Galliker
Arbeits- und Organisationspsychologin
/sibylle-galliker

In der Schweiz werden Arbeitgeber durch das Arbeitsgesetz (ArG) und seine Verordnungen dazu verpflichtet, die physische und psychische Gesundheit der Mitarbeitenden zu wahren. Eine Minimierung von psychosozialen Risiken ist für Arbeitgeber eine grosse Herausforderung. Entsprechende Massnahmen zur Reduktion von psychosozialen Risiken scheinen erfreulicherweise zunehmend in den Fokus zu rücken – v.a. auch bei Unternehmen, die sich als attraktive Arbeitgeber positionieren und ihre Mitarbeitenden längerfristig im Unternehmen halten möchten.

Welche Massnahmen zur Verbesserung des psychosozialen Arbeitsumfelds zeigen nachweislich eine positive Wirkung?
Birgit Aust vom National Research Centre for the Working Environment in Kopenhagen ging zusammen mit Kolleg:innen aus Dänemark, der Schweiz, Deutschland und den Niederlanden genau dieser Frage nach. Die Forschenden erstellten eine Übersicht über 52 systematische Übersichtsarbeiten (10 Metaanalysen und 42 Reviews) zu Interventionen auf der Organisationsebene, die zwischen 2000 und 2020 veröffentlicht wurden. Insgesamt umfassten die eingeschlossenen Übersichtsarbeiten Ergebnisse aus 957 Primärstudien. Die Forschenden bewerteten die Evidenz bzgl. Interventionswirksamkeit anhand der Qualität der Übersichtsarbeiten, der Konsistenz der dort berichteten Primärstudienergebnisse und des Anteils an berichteten Studien mit Kontrollgruppen-Forschungsdesign. 
Eingeschlossen in die Untersuchung wurden Interventionen, die auf Veränderung der Arbeitsbedingungen, des Führungsstils oder der Organisationspolitik zielten oder auf die Verbesserung der Kompetenzen zur Bewältigung von Arbeitsaufgaben fokussierten. Ausgeschlossen wurden hingegen Studien zur Veränderung der individuellen Bewältigungsstrategien der Mitarbeitenden (z. B. die Vermittlung von Achtsamkeitstechniken).  

Gut belegt ist die Wirksamkeit von Interventionen, die Mitarbeitenden mehr Gestaltungspielräume gewähren sollen - hinsichtlich Arbeitszeit, Arbeitsaufgaben oder Arbeitsorganisation.
In Bezug auf die Interventionsansätze fanden die Forschenden eine hohe Evidenz für Interventionen, die sich auf Änderungen der Arbeitszeitregelungen konzentrierten. Insbesondere Ansätze, die den Arbeitnehmenden mehr Einfluss auf die Gestaltung ihrer Arbeitszeit gaben (z. B. bei Schichtarbeit) zeigten positive Auswirkungen insbesondere auf die Work-Privacy Balance aber auch auf Gesundheitsvariablen. An zweiter Stelle bzgl. der Evidenz zeigte sich die Erhöhung der Einflussmöglichkeiten der Mitarbeitenden auf die Arbeitsaufgaben oder die Arbeitsorganisation, sowie Massnahmen, bei denen Mitarbeitende partizipativ an Verbesserungen der Prozesse beteiligt wurden. 
 

Einfluss und Gestaltungsspielräume erweisen sich einmal mehr als gesundheitsfördernd.

Hingegen konnte die Wirksamkeit von Ansätzen, die auf eine systematische Unterstützung von Berufseinsteiger(inne)n setzten (allerdings ausschliesslich in der Pflege untersucht) sowie von Gewaltpräventionsprogrammen nicht hinreichend gut belegt werden. Die Analyse zu Training und Entwicklung von Führungskräften zeigte widersprüchliche Ergebnisse, so dass keine schlüssigen Erkenntnisse formuliert werden konnten. Hierzu bräuchte es weitere gut angelegte Interventionsstudien. 

Gut belegt ist die Wirkung von organisationsbezogenen Interventionen auf Burnout und verschiedene weiteren Indikatoren der Gesundheit und des Wohlbefindens. Die Kombination mit Interventionen auf individueller Ebene (z. B. besserer Stressbewältigung) bei vielen Burnout-Interventionen könnte zu den positiven Auswirkungen beigetragen haben. Zum Teil widersprüchliche Ergebnisse zeigten sich hingegen bzgl. Wirkung auf das Stresserleben der Mitarbeitenden. Die Wirkung auf die Mitarbeiterbindung ist bislang noch zu wenig untersucht, um gesicherte Aussagen treffen zu können. 

Wünschenswert wären eine evidenzbasierte Klärung der Wirkmechanismen von Massnahmen. In vielen Übersichtsarbeiten wird hervorgehoben, dass insbesondere durch Interventionen, die sich auf Arbeitszeitpläne, die Verringerung der Arbeitsbelastung, eine verbesserte Arbeitsorganisation, eine verbesserte Arbeitskontrolle und -beteiligung, soziale Unterstützung, Kommunikation und Feedback konzentrieren, tatsächlich auch wesentliche Veränderungen in den Arbeitsbedingungen bewirkt werden konnten (proximale Effekte). Diese dürften in der Folge zur Verbesserung der Gesundheit führen (distale Effekte). 

Mehr Forschung ist erforderlich, um besser zu verstehen, warum nur bestimmte Massnahmen auf organisatorischer Ebene zu den gewünschten Veränderungen führen. Es braucht Studien, die nicht nur die Wirksamkeit von Interventionen prüfen, sondern auch systematisch untersuchen, ob die notwendigen Voraussetzungen für die Interventionen gegeben waren, welche kontextuellen Aspekte einen Einfluss auf die Intervention gehabt haben könnten und inwieweit Misserfolge auf Umsetzungsprobleme zurückgeführt werden können.
Der Überblick über die Forschung der letzten 20 Jahre von Aust und Kolleg(inn)en zeigt, dass durch Massnahmen auf Organisationsebene und insbesondere gezielte gesundheitsorientierte Arbeitsgestaltung, das psychosoziale Arbeitsumfeld und die Gesundheit einer Vielzahl von Mitarbeitenden verbessert werden kann. 

Die Ergebnisse der vorliegenden Studie unterstreichen die herausragenden Rolle, die Handlungsspielraum (oder Autonomie/Kontrolle) der Mitarbeitenden als wirkungsvolle Ressource in der Stressliteratur spielt. Einfluss und Gestaltungsspielräume erweisen sich einmal mehr als gesundheitsfördernd. 
 

Studie

Aust, B., Moller, J. L., Nordentoft, M., Frydendall, K. B., Bengtsen, E., Jensen, A. B., ... & Jaspers, S. O. (2023). How effective are organizational-level interventions in improving the psychosocial work environment, health, and retention of workers? A systematic overview of systematic reviews. Scandinavian Journal of Work, Environment & Health, 49(5), 315–329. doi:10.5271/sjweh.4097

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