Abschliessend beschreibt Coates die klinischen Befunde und Behandlungsempfehlungen zu Traumatisierungen vor der sprachlichen Symbolisierungsentwicklung anhand zweier bekannter fremder und zwei eigener Fallbeispiele: Drei Mädchen mit Traumata im Alter von 3 Monaten (Hirnoperation), 10 Monaten (versuchte Ermordung) und 12 Monaten (Bombenattentat) hatten somatische und sensorische Erinnerungen an ihr lebensgefährdendes Extremtrauma. Den im Kleinkindalter situativ reaktivierten Traumata fühlten sich diese Kinder im inneren Wiedererleben immer wieder ausgesetzt und versuchten sie gestikulierend und verbalisierend im Austausch mit Bezugspersonen zu verarbeiten. Die frühkindlichen Gedächtnisentwicklungen untermauert Coates jeweils mit spezifisch zu den Fallbeispielen zitierten neurokognitiven Entwicklungsstudien.
Das dritte Fallbeispiel zu Betsy, dem Mädchen, das mit10 Monaten knapp eine Messerattacke eines geistig verwirrten psychiatrischen Patienten überlebte, beschreibt Coates ausführlich, insbesondere zu den fortwährend unterstützenden Traumaverarbeitungsmöglichkeiten der Bezugspersonen und zu den Ko-Konstruktionen im Containment der Therapie bis in die Kindergartenzeit.
Im vierten Fallbeispiel beschreibt Coates eindrücklich die Langzeitwirkung mit sensorischen Flashbacks ohne Erinnerungsvermögen bis ins Erwachsenenalter nach einer fünf Jahre dauernden Kindertherapie infolge wiederholter Traumatisierung mit Würgen eines zweijährigen Jungen durch die psychisch erkrankte Mutter. Mit allen Beispielen verdeutlicht Coates die lebenslangen Auswirkungen frühkindlicher Traumata.
Schmerz- & Trennungserfahrung
In der Psychoanalyse ist bekannt, und Coates weist deutlich darauf hin, dass während des 2. Weltkriegs psychoanalytisch geschulte Kinderärzte in den USA und in England auf die traumatischen Auswirkungen von Eltern-Kind-Trennungen infolge Krankenhausaufenthalten hingewiesen und filmisch dokumentiert haben (David Levy 1939, 1945; Robertson 1941). Doch noch in den frühen 80-er Jahren mussten an der Universität Zürich empirische Mutter-Kind-Forschungen durchgeführt werden für den Nachweis akuter und langfristiger Entwicklungsbeeinträchtigungen bei Säuglingen, die postpartale Trennungstraumata erleiden. Sogar bis Ende der 80-er Jahre galt in der allgemeinen Psychologie und Medizin ein „Gedächtnis für Leid“ bei Säuglingen als nicht vorhanden und chirurgische Eingriffe bei Säuglingen wurden kaum mit Betäubung durchgeführt, referiert Coates (2018, 997) zu den neuesten empirischen Nachweisen lebensbedrohlicher psychischer Traumatisierung (Anand & Hickey, 1987,1992; Rodkey & Pillai Riddell 2013). Demnach fiel die „Überlebensrate bei Säuglingen, die operiert wurden, bei einer tiefen Narkose erheblich höher aus als bei einer flachen Narkose. Fast ein Drittel der Babys mit flacher Narkose starben, während diejenigen mit tiefer Narkose alle durchkamen. In der Gruppe mit flacher Narkose waren massive hormonelle Stressreaktionen festzustellen, und die stärksten Reaktionen traten bei den Babys auf, die starben.“
Untersuchungsmethode und Resultate
Mittlerweile haben nach Terr (1988) und Gaensbauer (1995) Coates und ihre Mitarbeitenden anhand der diagnostischen PTBS-Kriterien in Spiel- und Verhaltensbeobachtungen übereinstimmend nachgewiesen, dass Kinder unter drei Jahren ein Trauma, das sie noch nicht in Worte zu fassen und im expliziten Gedächtnis zu speichern vermögen, im Spiel mit motorischem Verhalten und somatischen Reaktionen darstellen. Dabei treten dieselben drei Grundkategorien psychotraumatischer Symptome auf, die auch bei Erwachsenen zu beobachten sind: Wiedererleben, emotionale Betäubung (vermehrter sozialer Rückzug, reduziertes Affektspektrum, vorübergehender Verlust von erworbenen Fertigkeiten, Einengung der Spielaktivität) und Hyperarousal mit Albträumen, Schlafstörungen, Aufmerksamkeitsproblemen, Hypervigilanz und überstarken Schreckreaktionen (Coates, Schechter & First 2003); Scheeringa et al 2003; Schechter & Tosyali 2001) Das heisst, schon in der vorsprachlichen Entwicklungsphase werden traumatische Ereignisse episodisch gespeichert und symbolisch repräsentiert. Dadurch prägt das körperliche Erinnern im episodischen Gedächtnis die weitere psychische Entwicklung, sichtbar und messbar im Spielverhalten des Kindes. Dazu Coates (2018, 998), „Das posttraumatische Spiel kleiner Kinder ist vom gewöhnlichen Spiel leicht zu unterscheiden: es scheint einem zwingendem inneren Dialog zu folgen und lässt sich als repetitives Nachspielen des Traumas begreifen. (...) Häufige Folgewirkungen eines Kindheitstraumas sind ausserdem neu auftretende Symptome, insbesondere phobieartige Ängste oder Aggressivität, die vor dem traumatischen Ereignis nicht vorhanden waren.“
M. B.
19/11/2020