Psychoscope-Blog – Seelischer Schmerz bei Kindern und Jugendlichen

Miriam Vogel
Forschung
Psychoscope-Blog
«Erlebnisse von sozialer Ablehnung, Ausgrenzung oder Verlust zählen zu den schmerzlichsten Erfahrungen» – und körperliche Schmerzen verringern sich bei sozialer Unterstützung.

«Eltern und signifikante Betreuungspersonen spielen aufgrund ihres Verhaltens gegenüber den Schmerzen ihres Kindes eine nicht geringe Rolle. Ihr eigener und der familiale Umgang mit Schmerzen (sei es, dass sie diese überbetonen, nicht genügend ernst nehmen oder inadäquat darauf reagieren) bildet das erste Resonanzelement, mit dem sich der Säugling identifiziert». «Eltern, die sich an ihren, in der Kindheit erduldeten Schmerz und ihr erlebtes Leid bewusst erinnern, sind in der Regel vor einer blinden Wiederholung mit ihrem eigenen Kind geschützt». Was andernfalls an Leid weitergetragen werden kann, beschreiben uns Bürgin & Steck (2021) aus ihrer jahrzehntelangen Erfahrung in Ihrem neuesten Buch.

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Miriam Vogel
Dr. phil.
Fachpsychologin für Psychotherapie FSP, Fachpsychologin für Klinische Psychologie und Fachpsychologin für Kinder- und Jugendpsychologie
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Seelische Schmerzen bei Kindern und Jugendlichen – hier mitten unter uns – sind oft kaum sichtbar, zeigen sich aber in den verschiedensten Symptomen. Das Spektrum reicht von körperlicher und emotionaler Unruhe, Anspannung, Angst und Verhaltensauffälligkeiten ohne ADHS-Diagnose (!) bis zu ihrem Gegenteil, sozialem Rückzug und Depression bis zu Apathie. Der ursprüngliche «seelische Schmerz» wird in der Erinnerung meist «vergessen». In einer analytisch-therapeutischen Beziehung kann er dem Bewusstsein und damit einer Linderung zugeführt werden.

WARUM werden «seelische Schmerzen» im Unbewussten nicht «vergessen»? 
Dieter Bürgin, Prof. em. Dr. med., Ordinarius und langjähriger Chefarzt der Psychiatrischen Universitätsklinik für Kinder und Jugendliche in Basel, Ausbildungsanalytiker der Schweizerischen Gesellschaft für Psychoanalyse (SGPsa) und
Barbara Steck, Dr. med., Priv. Doz. für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -Psychotherapie der Universität Basel mit langjähriger Tätigkeit an den Kinder- und Jugendpsychiatrischen Universitätskliniken Basel und Lausanne, Psychoanalytikerin und Familientherapeutin, - sie beide können uns diese Fragen beantworten. 

Seit Darwin (1872) ist der evolutionäre Ursprung des emotionalen Schmerzausdrucks bekannt. Er stellt einen Hilferuf dar und löst prosoziale Antworten und Reaktionen aus. «Die Funktion des Schmerzes besteht bei allen Lebewesen darin, den Körper von Schaden zu schützen, letztlich dient der Schmerz der Verlängerung des Lebens» (Bürgin et al. 2021, S. 37). 

Die internationale 200-jährige «Child & Adolescent Health Commission” hält fest, dass «das Empfinden von Schmerzen alle Kinder betrifft. Das persönliche, psychische Erleben von Schmerzen bleibt oft unbemerkt, wird nicht verbalisiert oder sogar ignoriert. Nicht behandelte, nicht erkannte oder schlecht behandelte Schmerzen in der Kindheit führen zu ernsthaften und langanhaltenden negativen Folgen, die bis ins Erwachsenenalter andauern und chronische Schmerzen, Behinderungen und Leiden beinhalten. Bessere Möglichkeiten zur Erfassung und Bestimmung von Schmerzen müssen zur Verfügung gestellt, ein leichterer Zugang zu Behandlungen von Schmerzen ermöglicht und günstigere Therapiemodelle entwickelt werden» (Bürgin et al. 2021, S. 49).

WO wird «seelischer Schmerz» gespeichert?
Bürgin & Steck beschreiben neurobiologische Aspekte bei Schmerz- und Stressverarbeitung bei psychischem Trauma und in posttraumatischen Belastungsstörungen. «Sowohl beim psychischen als auch beim physischen Schmerz sind die gleichen neuronalen Mechanismen beteiligt», der anteriore cinguläre Gyrus, der dorsomediale Thalamus und das periaquäduktale Grau (Eisenberger et al. 2003; Panksepp 2003). «Die gleichen Neurotransmitter (Opiate, Endorphine, Oxytocin und Prolactin), die den körperlichen Schmerz regulieren, steuern auch die Schmerzgefühle in Trennungssituationen. Das Schmerzempfinden wird moduliert durch die Einwirkung von emotionalen und kognitiven Komponenten. Der affektive Zustand von Angst und Depression beeinflusst das Schmerzerleben. Schmerz und Stress werden in denselben Hirnregionen verarbeitet. Werden Grundbedürfnisse eines Kindes durch kontinuierliche, liebevolle und zuverlässige Bezugspersonen nicht erfüllt, so ist die Entwicklung der Persönlichkeit und der Gesundheit dieses Kindes anhaltend gefährdet.» (Bürgin et al. 2021, S. 37-39).

WIE kann «seelischer Schmerz» gelindert werden?
«In einer analytischen Psychotherapie besteht das Ziel der Verarbeitung von Traumata darin, die hohe Intensität der emotionalen Belastung zu verringern, einen gewissen Sinn des Erlebnisses zu erarbeiten und die Art der Traumaverarbeitung in ihrer Auswirkung auf die Entwicklung zu erfasssen» (Bürgin et al. 2021, S. 162).
Bürgin und Steck erklären in zahlreichen Fallbeispielen, mit welchem Wissen und mit welchem therapeutischen Vorgehen sie mit Kleinkindern und ihren Eltern, Schulkindern und Jugendlichen die «seelischen Schmerzen» individuell und spezifisch verstanden und verarbeitet haben – ein grosser, wegweisender Fundus für alle Kinder- und Jugendtherapeuten. 
 

Literatur

Bürgin, D., & Steck, B. (2021). Seelischer Schmerz bei Kindern und Jugendlichen. Psychoanalytisch-psychotherapeutische Perspektiven. Frankfurt a.M.: Brandes & Apsel.

Darwin, Ch. (1872). The expression of the emotions in man and animals. London: John Murray.

Eisenberger, N. I., Liebermann, M. D., & Williams, K. D. (2003). Does rejection hurt? An FMRI study of social exclusion. Science, 302(5643), 290-292. 

Panksepp, J. (2003). Neuroscience. Feeling the pain of social loss. Science, 302(5643), 237-239.
 

Kommentare

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Adrian Oertli

Adrian Oertli

12/07/2022

Spannend dabei ist auch, dass körperlicher Schmerz hingegen stärker wird, wenn man ihm mit Empathie begegnet.

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