Psychoscope-Blog – Wenn emotionale Ansteckung droht
Aus 1171 Referenzstudien wurden zehn ausgewählt. Review-Ziel war herauszufinden, ob suizidale Patientinnen und Patienten eine spezifische Gegenübertragungen hervorrufen und ob es dabei ggf. einen Zusammenhang mit dem zukünftigen suizidalen Verhalten gibt. Weiterhin wurde untersucht, ob es bei den behandelnden Personen Merkmale gibt, die die Gegenübertragung auf diese Patientinnen und Patienten beeinflussen. Etwa 700 Gesundheitsspezialisten führten hierfür 2247 klinische Gespräche mit Personen durch, die stationär, ambulant oder in der Notaufnahme behandelt wurden. Für die Messung der Gegenübertragung und der Suizidalität wurden verschiedene Evaluierungswerkzeuge verwendet.
Gegenübertragung und Verschlimmerung des Verhaltens
Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass suizidgefährdete Patienten häufig eine «negative» spezifische Gegenübertragung bewirken: Angst, Verstimmung, Wut, Ängstlichkeit, Überforderung, Desinteresse, Belastung, Leid, Ausweglosigkeit und Machtlosigkeit. Diese negativen Emotionen schlagen sich unter anderem in ungeeignetem Verhalten wie urteilenden und dogmatischen Haltungen, Ablehnung oder Überengagement nieder.

Aus der Studie ergab sich ein Zusammenhang in Bezug auf eine mögliche Verschlimmerung dieser Verhaltensweisen (gemessen anhand der Schwere der Suizidgedanken und der Suizidversuche). Dies bestätigt die Auswirkung dieser Gegenübertragung auf die suizidalen Gedanken und Verhaltensweisen Die Forscher weisen darauf hin, dass neue oder vorhandene (also nicht vergangene) Suizidgedanken an solchen Gegenübertragungen beteiligt sind; es wird in der Studie aber hervorgehoben, dass die Kausalität noch weiter untersucht werden müsste.
«Emotionaler Ansteckungseffekt»
Ein nicht unerheblicher Anteil der Gegenübertragungsvarianz sei den behandelnden Personen zuzuschreiben, wobei nicht ganz klar ist, wie dieser Effekt zustandekommt. Auch die Tatsache, dass suizidale Patientinnen und Patienten starke Emotionen empfinden (Verzweiflung, Selbsthass, Verärgerung, Ausweglosigkeit) könnte einen «emotionalen Ansteckungseffekt» auf die behandelnden Personen besitzen. Die Studienergebnisse zeigen auch eine Verbindung zwischen der Gegenübertragung und den aggressiven Verhaltensweisen von Patientinnen und Patienten, die beispielsweise unter einer Persönlichkeitsstörung leiden. Solche Profile können die Gegenübertragung tatsächlich beeinflussen. Umgekehrt ist es möglich, dass suizidale Patientinnen und Patienten mit Persönlichkeitsstörung stärker von negativen Affekten beeinflusst sind. Auf jeden Fall wurde gezeigt, dass die Bewertung des Suizidrisikos stark von der Qualität der Kommunikation innerhalb der therapeutischen Beziehung abhängt.
Trotz der vom Forschungsteam festgestellten Einschränkungen ist es in der klinischen Praxis sehr wichtig, eine negative Gegenübertragung bei den suizidalen Patientinnen und Patienten zu erkennen. Negative Haltungen der behandelnden Personen gegenüber den suizidalen Patientinnen oder Patienten, wie z. B. Empfindungen, wirken sich direkt auf die Art der Begleitung aus. Dies gilt sowohl für die Haltung als auch für die getroffenen Entscheidungen, die wiederum die Prognose der betroffenen Person verschlechtern können. Einen wichtigen Stellenwert nehmen dabei Schulung, Supervision und persönliche Therapie ein, denn sie bieten Aufschluss darüber, wie die Gegenübertragung erkannt und verwaltet werden und somit eine bessere Behandlung gewährleistet werden kann.
Studie
Michaud, L., Greenway, K.T., Corbeil, S. et al. (2021). Countertransference towards Suicidal Patients: a Systematic Review. Current Psychology. https://doi.org/10.1007/s12144-021-01424-0
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