Sport soll Lebensschule sein
Die kontinuierliche Verbesserung des Selbst und des eigenen Körpers ist zum moralischen Imperativ postmoderner Gesellschaften geworden. Wie Sportpsychologinnen und Sportpsychologen damit umgehen können.

Für Adolf Ogi, ehemaliger Sportminister der Schweiz und Sonderbeauftragter der Vereinten Nationen (UNO) für Friedensförderung und Sport, ist der Sport und insbesondere der Nachwuchssport eine Lebensschule. «Man kann lernen, an Niederlagen nicht zu zerbrechen und bei Siegen nicht zu überschwänglich zu triumphieren. Man akzeptiert Gegner und Regeln, integriert sich, fasst Mut. Solche Erfahrungen bilden reife Persönlichkeiten.» Befragt man Sportlerinnen und Sportler zu diesem Thema, wird die These «Sport als gute Lebensschule» meist bejaht. Auch Tennisprofi Roger Federer, der vielleicht bedeutendste Schweizer Spitzensportler, beschreibt die Zeit als Teenager, die er in der Westschweiz verbrachte, als äusserst wertvoll: «Ich musste mich durchkämpfen und Opfer bringen. (...) Das war wohl die beste Lebensschule für mich.»
Die persönlichkeitsfördernde Wirkung des Sports wird dabei in hohem Masse dem Erleben eines «gesunden und fair ausgetragenen» Konkurrenzkampfs zugeschrieben. Weiter beeinflussen natürlich auch Trainerinnen, Trainer und Eltern mit ihrer Vorbildfunktion die individuelle Entwicklung des Sportlers oder der Sportlerin. Ähnlich wie in der Musik oder in anderen künstlerischen Lernumwelten kann auch der Sport zu einer positiven Ausbildung des Selbstvertrauens und einer eigenständigen Persönlichkeit beitragen.
Selbstbestimmung und Selbstwirksamkeit
Den entwicklungstheoretischen Hintergrund zu dieser Annahme bietet das Modell der Selbstbestimmungstheorie der beiden US-amerikanischen Psychologieprofessoren Edward Deci und Richard Ryan. Motiviertes Handeln und menschliche Entwicklung hängen demnach immer davon ab, inwieweit die drei psychologischen Grundbedürfnisse nach Kompetenzerleben, sozialer Anerkennung und Autonomie (Selbstbestimmung) befriedigt werden können. Für die Herausbildung längerfristiger persönlichkeitsbildender Verhaltensweisen spielt die Förderung der Eigeninitiative in Verbindung mit einer intrinsischen Motivationsgrundlage eine massgebliche Rolle. Die soziale Unterstützung durch die Sportgruppe sowie ein individuelles und – wenn immer möglich – selbstbestimmtes Trainingsprogramm bilden weitere Eckpfeiler in diesem Lernsetting. Im Spitzensport sind die Vorgaben sportliche Leistungsziele: die persönliche Bestleistung, die Qualifikation für eine Meisterschaft oder ein erfolgreiches Abschneiden an einem Zielwettkampf.
Das Erreichen eines Leistungsziels ist sehr eng verknüpft mit der individuellen Selbstwirksamkeitsüberzeugung (perceived self-efficacy). Im Verständnis des kanadischen Psychologen Albert Bandura bedeutet Selbstwirksamkeit im Sport konkret, dass sich jemand mit hoher Selbstwirksamkeit einen Sieg zutraut. Wir haben allen Grund zur Annahme, dass sich Roger Federer schon als junger Tennisspieler viel zutraute («Wenn ich mich anstrenge, schaffe ich das»). Seine Gegenspieler mit niedrigerer Selbstwirksamkeit hingegen gaben sich innerlich frühzeitig auf («Roger ist heute besonders stark, da habe ich keine Chance»). Natürlich gilt auch im Sport, dass die subjektive Beurteilung der Selbstwirksamkeit in erster Linie von der tatsächlichen Leistung abhängt. Hohe Leistungen gehen meist mit hoher Selbstwirksamkeitserwartung einher. Beim jungen Roger Federer hing die subjektive Selbstwirksamkeitsbeurteilung von vier weiteren Faktoren ab. Erstens: von der Beobachtung der Leistung anderer («Mein bester Freund hat eben sein Match auch gewonnen, das kann ich auch»). Zweitens: von Überzeugungen, die er entweder selbst aufgebaut oder von anderen übernommen hat («Auch mein Trainer traut mir diese Leistung zu»). Drittens: von der Beobachtung seiner Gefühlsregungen, die dann entstehen, wenn er besonders erfolgreich Tennis spielt («Ich spüre dieses Kribbeln, das zeigt mir, dass ich bereit bin»). Viertens: von positiven Handlungsereignissen, die er bereits erzielt hat («Das Turnier letzte Woche habe ich ja auch gewinnen können»).
Das Selbst und die sozialen Medien
Nebst den genannten subjektiven Aspekten betonte Albert Bandura schon bei der Ausarbeitung seiner Theorie in den 1970er-Jahren den grossen Einfluss der Umwelt. Diese hat sich seit der Teenagerzeit Roger Federers durch die sozialen Medien erheblich verändert. Aktuelle Entwicklungsmodelle, sogenannte Self-Enhancement-Theorien, verweisen auf den grundlegenden Antrieb des Menschen, das eigene Selbst positiv darzustellen und positive Bewertungen von anderen zu erhalten.
Im Umfeld der heutigen Jugendlichen, das zunehmend durch die digitale Welt bestimmt wird, steigt der Wunsch nach vielen «Likes», insbesondere, wenn andere positive Bewertungen ausbleiben (beispielsweise das Lob des Lehrers oder der Eltern). Jugendliche interagieren heute über Social-Media-Netzwerke und wollen Teil von verschiedenen Online-Communities sein. Gemäss der Erhebung Jugend, Aktivitäten, Medien (JAMES) aus dem Jahr 2018 der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) haben 94 Prozent der Schweizer Jugendlichen bei mindestens einem sozialen Netzwerk ein Profil und über 90 Prozent nutzen diese Netzwerke täglich. Den Jugendlichen gelinge es dort leicht, Kontakte zu Gleichgesinnten zu knüpfen und Zugehörigkeit zum Freundeskreis auch online zu entwickeln. Die Lust nach schnellen «Erfolgserlebnissen» (ihre Beiträge werden angesehen und positiv kommentiert) und das Gefühl des Dazugehörens dürften ebenso wesentliche Treiber sein für die Nutzung von sozialen Medien wie die Tatsache, dass sich Jugendliche in der Online-Community, meist von Erwachsenen ungestört und unbeobachtet, in ihrer Peergroup bewegen können.
Von Selbstverbesserung bis Selbstoptimierung
Die wissenschaftliche Definition von Self-Enhancement bleibt vage, die Bedeutungszuordnung reicht von Selbstverbesserung (self-improvement) bis zu Selbstoptimierung (self-optimization). Letztlich dürfte die individuelle Bedeutung der eingesetzten (medialen) Mittel (der Begriff «Selbsttechnologien» mag hier passend erscheinen) darüber entscheiden, welchem Zweck ihre Anwendung dienen soll. Wir können unsere Gemütsbewegungen auf dem Smartwatch-Panel amüsiert zur Kenntnis nehmen, der Blutdruckmessung die Beachtung einer «Schnupperphase» widmen oder die integrierte Pulsfrequenzanalyse des Intervalltrainings zur Trainingsoptimierung nutzen.
Selbstoptimierung hat derzeit einen schlechten Ruf. Eberhard Wolff, Professor für Kulturanthropologie an der Universität Basel, beschreibt die Verwendung des Begriffs Selbstoptimierung als einen Skandaltypus, als eine Denkfigur eines bewusst unscharf verwendeten Superlativs: «Das Optimieren bleibt in der Selbstoptimierung der Wissenschaft ebenso unbestimmt und damit emotionalisier- und funktionalisierbar wie in der Alltagsfloskel.»
Inwiefern Self-Enhancement einem nie endenden, fremdgesteuerten Zwang unterliegt oder dem Ziel der Verbesserung der eigenen Lebensqualität folgt, bleibt derzeit noch offen. Die Ursachen und Auslöser, die auch junge Menschen schon früh zur Selbstoptimierung veranlassen, erscheinen hingegen vielfältig. Zwei sehr menschliche Motivationen sind dabei zentral: der Wunsch nach Perfektion und der Drang, sich mit anderen zu vergleichen und dabei gut abzuschneiden.
Perfektionismus, Zwang und Sucht?
Im Rahmen einer unbarmherzigen Leistungsideologie kann Selbstoptimierung negative Auswirkungen haben. Dies zeigt sich zum Beispiel dann, wenn eine Schweizer Influencerin im Bereich Fitness und gesundes Essen zu ihren 500 000 meist weiblichen Foll-owern als prototypische Enhancerin – sie hat sich auch schon mehrmals Schönheitsoperationen unterzogen – spricht. Um später zuzugeben, dass sie Essstörungen und Depressionen durchleidet. Die Haltung «Ich will mich unter allen Umständen optimieren, weil ich noch nicht optimal bin», bekommt deutliche Risse.
Denn sobald Self-Enhancement zum medial befeuerten Trend wird und den Perfektionismus unterstützt, erhöht sich der Druck zum Schön- und Fitsein gerade bei Jugendlichen deutlich. Das erklärt auch, wieso schon 15-jährige Jungen heute häufig in Fitnessstudios und Krafträumen anzutreffen sind und vermehrt verbotene Dopingmittel wie Anabolika für den Kraftaufbau einnehmen. Eine Umfrage von Gesundheitsförderung Schweiz ergab, dass 80 Prozent der 13- bis 15-jährigen Buben mehr Muskeln wollen. Bei den gleichaltrigen Mädchen fühlen sich 50 Prozent zu dick.
Selbstverstärkung und Leistungssteigerung, wie sie auch auf der Grundlage der Selbstbestimmungs- und Selbstwirksamkeits-Theorie beschrieben wird, ist eine allgegenwärtige Motivation. Sie manifestiert sich auf breiter Ebene – in der Schule, im Sport, aber auch im Erwachsenenalltag – und schützt und fördert die Positivität des Selbst. Wo aber ein Optimierungseifer überhandnimmt, befeuert durch die sozialen Medien oder übermotivierte Eltern, drohen dysfunktionale Entwicklungen. Die Sportpsychologie bietet sich an, das Spannungsfeld auszuloten zwischen einer «naturbelassenen» Persönlichkeit und einer, die sich anscheinend grenzenlos selbst ausgestalten kann. Sportpsychologinnen und Sportpsychologen sollen auch dort aktiv werden, wo verbotene Substanzen ins Spiel kommen oder wo Eltern und Trainer von jungen Leistungssportlerinnen und -sportlern um Unterstützung bitten.
Eine Ethik-Charta für Kinder und Jugendliche
Seit über 30 Jahren engagiert sich der Panathlon-Club International für einen kindgerechten Sport. Seine Bestrebungen münden in der Charta der Rechte der Kinder und Jugendlichen im Leistungssport, die auch von Swiss Olympic getragen wird. Die Charta will Kinder und Jugendliche vor Missbrauch und übertriebenen Ansprüchen schützen. Sechs Verhaltensregeln lassen sich ableiten, welche die Trainer zum Wohlergehen der Kinder und Jugendlichen im Sport einhalten müssen. Erstens sollen die jungen Sportlerinnen und Sportler mitentscheiden können und ihre Trainerinnen sollen sie zur selbstständigen Zielsetzung anregen. Zweitens: Die Grundhaltung in der Beurteilung von Leistung und Engagement soll das Recht sein, kein Sieger sein zu müssen. Drittens: Den Sportlern soll genügend Freiraum gegeben werden, um eigeninitiativ, selbst entdeckend und neugierig zu agieren. Viertens: Eine positive Trainingsatmosphäre und Kommunikation sollen gefördert werden. Fünftens: Positive Gruppenverhaltensweisen und der Zusammenhalt in Teams soll betont werden. Und sechstens muss das eigene Verhalten als Trainer, Funktionärin, Vater oder Mutter mittels Intervision oder Supervision überprüft werden.
Inwiefern Sport tatsächlich eine gute Lebensschule sein kann, hängt im Wesentlichen von einer individuell passenden Entwicklung des jugendlichen Selbst ab. Im Leistungssport der Kinder und Jugendlichen sind Grenzen dort erreicht oder überschritten, wo exzessive Ansprüche von aussen oder von innen dem Wohlergehen der jungen Menschen Schaden zufügen. Es muss Ziel der Sportpsychologie sein, sich für das Wohlbefinden der jungen Sportlerinnen und Sportler einzusetzen und angemessene Formen des Self-Enhancements zu unterstützen. Das Projekt «Elterncoaching im Spitzensport» (siehe Infobox) ist eine Möglichkeit, wie dies geschehen kann.
Autorin und Autor
Cristina Baldasarre ist Fachpsychologin für Sportpsychologie sowie für Psychotherapie FSP. Sie arbeitet zudem als Swiss-Olympic-Trainerin im Eislaufen. Ihre inhaltlichen Schwerpunkte liegen in der Beratung jugendlicher Leistungssportlerinnen und -sportler sowie in der therapeutischen Unterstützung junger Menschen in Lern- und Leistungsfragen.
Hanspeter Gubelmann ist promovierter Psychologe und Fachpsychologe für Sportpsychologie FSP. Hauptberuflich leitet er den erziehungswissenschaftlichen Bereich des Lehrdiploms Sport an der ETH Zürich. Seit 30 Jahren übt er im Bereich des Hochleistungssports viele Funktionen aus. Als Sportpsychologe befasst er sich seit längerem mit dem Thema Elterncoaching. Hanspeter Gubelmann ist darüber hinaus seit 2017 Vorstandsmitglied der FSP.
www.mind2win.ch
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