Von der Freundschaft

Lisa Wagner
Verband
Freundschaften sind nicht nur Teil eines gelungenen Lebens, sie können es sogar verlängern. Und Freundschaften verändern sich während des Lebens, wie Annes Beispiel zeigt.

Annes Alltag hat sich in den letzten Monaten deutlich verändert: Sie ist kürzlich in Rente gegangen. Sie freut sich darüber, mehr zu reisen, im Garten zu arbeiten und Zeit mit ihrer Enkelin zu verbringen. Sie nimmt ihre Pensionierung aber auch zum Anlass, auf ihr bis-heriges Leben zurückzublicken.

Dabei stellt sie fest, dass die Arbeit und ihre Familie eine wichtige Rolle gespielt haben. Aber es gab noch eine weitere wichtige Konstante in ihrem Leben: Freundschaften. Und auch wenn sie viele langjährige Freundinnen und Freunde hat, kommt ihr die Bezeichnung «Konstante» falsch vor. Denn ihre Freundschaften und deren Bedeutung haben sich über Annes Leben hinweg stark verändert.

Freundinnen und Freunde sind für Anne die Menschen, mit denen sie gern auch über Intimes spricht, die sie auch spätabends anrufen kann, wenn sie Hilfe braucht, und mit denen sie gerne ihren Geburtstag feiert – Freundschaft bedeutet für sie emotionale Nähe, intellektueller Austausch und gegenseitige Unterstützung. Will man Freundschaften definieren, gehört neben solchen psychologischen Funktionen auch dazu, dass sie selbstgewählt sind, als positiv erlebt werden und keine offene Sexualität beinhalten.

Freundschaften verlängern das Leben Freundinnen und Freunde sind für Anne und die allermeisten Menschen ein wichtiger Teil des Lebens. Forschungsergebnisse zeigen, dass Menschen, die sozial eingebunden sind, länger leben – unabhängig von ihrem Gesundheitszustand. Eine Metaanalyse um die US-amerikanische Psychologieprofessorin Julianne Holt-Lunstad aus dem Jahr 2010 zeigt zum Beispiel, dass das Fehlen sozialer Verbundenheit mit einem gleich stark erhöhtem Mortalitätsrisiko einhergeht wie das Rauchen von bis zu 15 Zigaretten täglich und sogar «gefährlicher» ist als Alkoholmissbrauch.

Warum leben wir mit Freundschaften länger? Weil sie uns helfen, mit schwierigen Situationen umzugehen – sie mildern ne-gative Effekte auf unser Wohlbefinden ab. Zudem eröffnen sie uns andere Perspektiven. Und das vermehrte Erleben von positiven Emotionen hat sicher einen Anteil daran, dass wir mit Freundinnen und Freunden länger leben.

Freundschaft im Kindesalter

Schon Säuglinge reagieren freudig auf Gleichaltrige. Bei ihrer zweijährigen Enkelin beobachtet Anne, dass das kleine Mädchen rasch ein Spiel mit ihren «Freunden» anfängt und stark reagiert, wenn sie traurig sind. Das erstaunt Anne ein wenig, weil Kindern in diesem Alter eigentlich zugeschrieben wird, dass sie Freundinnen und Freunde meist nur als Spielgefährten für eine gewisse Zeit sehen. Doch schon Kleinkinder machen sich eine gewisse Vorstellung von Freundschaft: Sie sehen manche Gleichaltrige als «Freunde».

In der Kindheit schützen Freundinnen und Freunde nicht nur vor Schwierigkeiten in vielen Lebensbereichen, sie tragen auch klar zur Entwicklung sozialer, aber auch kognitiver, Fähigkeiten bei – und das nicht nur durch emotionale Nähe und Spass. Bereits der Schweizer Entwicklungspsychologe Jean Piaget ging davon aus, dass sich Freundinnen und Freunde eher gegenseitig kritisieren und sich dadurch weiterentwickeln können. Auch der Umgang mit Konflikten, die natürlich auch zu Freundschaften gehören, können Freunde voneinander besser lernen.

Freundschaft in der Jugend

Das Verständnis von Freundschaften wird mit steigendem Alter zunehmend komplexer. Während Kinder noch oft rigide Vorstellungen von Fairness haben – sie erwarten beispielsweise, dass auf eine freundliche Geste eine vonseiten des Freunds zurückkommen muss – entwickeln sie später ein tieferes Verständnis für die Perspektive und Bedürfnisse des Gegenübers. 

Parallel dazu verändern sich auch die Erwartun-gen, die man an Freundinnen und Freunde hat – während sich Freundschaften zunächst hauptsächlich um gemeinsame Aktivitäten drehen, wird es Befreundeten später immer wichtiger, sich auszutauschen und sich gegenseitig zu unterstützen.

Im Verlauf des Jugendalters werden Freundschaften zentral und Freundinnen und Freunde lösen die Eltern als wichtigste Bezugspersonen ab: Jugendliche öffnen sich nun ihren Freunden gegenüber stärker. Freundschaften erfüllen bereits in der Jugend viele Funktio-nen: Freundinnen und Freunde haben bei gemeinsamen Aktivitäten Spass, sie geben einander praktische Hilfe, tauschen sich aus, sind sich emotional nah und verlassen sich aufeinander.

Wenn Anne sich an ihre Freundinnen aus der Kindheit und Jugend erinnert, wird ihr bewusst, dass sie ihr die Möglichkeit gaben, sich von ihren Eltern abzugrenzen. Und sie fand dank ihnen gemeinsame Interessen, mit denen sie sich identifizieren konnte. Natürlich sind Freundschaften in diesem Alter auch ein Übungsfeld für spätere romantische Beziehungen: Mit Freundinnen und Freunden wird Kommunikation und der Umgang mit Konflikten geübt.

Die Kehrseite der Medaille: In diesem Alter haben «falsche Freunde» einen besonders starken Einfluss. Denn wenn Konfliktfähigkeit erlernt werden kann, dann auch problematische Verhaltensweisen wie Aggressivität oder Delinquenz, die oft von Freundinnen und Freunden «übernommen» werden.

Das Ende der Schulzeit stellt viele Freundschaften auf eine harte Probe – so war es auch bei Anne. Dennoch halten die meisten Menschen den Kontakt zu einigen früheren Schulfreunden. Als Anne ihr Studium in einer neuen Stadt begann, stiessen viele neue Men-schen in ihren Freundeskreis – wobei der Zufall nicht ganz unbeteiligt war. Eine ihrer besten Freundinnen, eine Mitstudentin, lernte sie kennen, als beide zwar zur Universität fuhren, aber dann doch keine Lust auf die Vorlesung hatten und sich entschlossen, zusammen draussen einen Tee zu trinken. 

Hier kann man vermuten, dass die beiden Studentinnen so entschieden hatten, weil sie einander ähnlich waren. Es gibt aber Studien, die nahelegen, dass Zufälle meist eine grössere Rolle spielen, als wir meinen. Zum Beispiel scheint es auszureichen, in einer Einführungsvorlesung nah zu sitzen, um ein Jahr später mit einer höheren Wahrscheinlichkeit befreundet zu sein, wie eine Studie um den deutschen Psychologieprofessor Mitja Back zeigte.

Natürlich spielt nicht nur der Zufall eine Rolle bei der Entstehung von Freundschaften. Insgesamt sind sich Freundinnen und Freunde häufig ähnlich – sowohl was Aspekte wie ihre Herkunft und Bildung, als auch was ihre Persönlichkeit und Werte angeht – der Einfluss der Ähnlichkeit ist aber oft schwächer als vermutet. Die freundschaftsbildenden Effekte einer Ähnlichkeit entstehen möglicherweise zum Teil auch daraus, dass man sich in einer Umgebung kennenlernt, in der Personen mit ähnlichen Eigenschaften und Interessen zusammenkommen. Für Anne war das zum Beispiel die Studierendenvertretung, in der sie sich engagierte. Dort schloss sie Freundschaften mit Kommilitonen, die sich wie sie gerne aktiv einbrachten.

Freundschaften verändern uns

Die Eigenschaften einer Person sind von Bedeutung, wenn wir versuchen, Unterschiede in der Quantität und Qualität von Freundschaften zu erklären. Insbesondere die Persönlichkeitseigenschaften Extraversion und Verträglichkeit sind bei der Freundschaft relevant: Sie tragen tendenziell positiv zu ihrem Entstehen und ihrer Qualität bei. Teilweise lässt sich beobachten, dass eine grosse Offenheit zu einer geringeren Stabilität von Freundschaften beiträgt. 

Allerdings können unsere Persönlichkeitseigenschaften nicht nur das Wesen unserer Freundschaft beeinflussen, sondern unsere Freundschaften können umgekehrt auch unseren Charakter verändern. Ganz in der Logik des griechischen Philosophen Aristoteles, der «echte Freundschaften» als «Freundschaften um der Person des Freundes willen» beschrieb. Also keine Freundschaften, die nur aus Überlegungen der Nützlichkeit oder aufgrund angenehmer freundschaftlicher Gefühle entstehen. In anderen Worten sind Freundschaften dazu da, sich gegenseitig bei der Entwicklung des Charakters zu unterstützen.

Erste Forschungsergebnisse – etwa die der Psychologen Marcus Mund und Franz Neyer von der Universität Jena – deuten tatsächlich darauf hin, dass es einen gegenseitigen Einfluss zwischen den Eigenschaften einer Freundschaft einerseits und den Persönlich-keitseigenschaften eines Menschen andererseits gibt. Um diese Fragen genauer zu untersuchen, wird es aber sinnvoll sein, nicht nur die in der Psychologie etablierten Persönlichkeitseigenschaften zu betrachten. Diese werden – zumindest auf dem Papier – nicht bewertet; Sie sind weder positiv noch negativ.

Bei der Erforschung dieses Zusammenspiels sollten aber auch klar positiv bewertete Eigenschaften wie Charakterstärken (siehe Infobox) in die Analyse einbezogen werden.

Freundschaften unter Männern

Kehren wir zur Biografie von Anne zurück. Im Studi­um lernte die junge Frau ihren späteren Mann ken­nen. Und obwohl die beiden durch das Studium viele gemeinsame Freunde hatten, sind für sie seine «Män­nerfreundschaften» manchmal ein Rätsel. Einmal kam ihr Mann von einem Wochenendtrip mit einem Freund nach Hause, konnte ihr aber nicht sagen, ob es der kranken Partnerin des Freunds besser ging. 

In der Forschung finden sich Hinweise darauf, dass sich Freundschaften unter Männern von solchen unter Frauen unterscheiden. Ein wichtiger Unterschied besteht bei der Erwartungshaltung bezüglich intimen Austauschs. Freundschaften unter Frauen werden als «face to face» charakterisiert (von Angesicht zu Angesicht; häufiger und tiefer Austausch), während Freundschaften unter Männern als «side by side» (Seite an Seite; gemeinsame Aktivitäten) beschrieben werden. Doch auch wenn sich über verschiedene Studien hinweg tatsächlich solche Freundschaftsmuster finden lassen, sind die Unterschiede zwischen den Geschlechtern letztlich oft kleiner als angenommen. 

Freundschaft und persönliches Wachstum

Als Annes Tochter zur Welt kam, rückten manche ihrer Freundinnen ein wenig in den Hintergrund – während die Anzahl der Freunde im jungen Erwachsenenalter bei den meisten Menschen zunimmt, verringert sie sich im mittleren Erwachsenenalter in der Regel. In dieser Lebensphase wird die Qualität der Freundschaften dafür wichtiger. Einige Studien mit Erwachsenen – wie die Langzeitstudie von Forschenden um die US-Psy­chologin Cheryl Carmichael – zeigen tatsächlich, dass Qualität und Zufriedenheit mit Freundschaften stärker mit dem Wohlbefinden zusammenhängen als deren Anzahl.

Viele von Annes Freundschaften haben nun bereits Jahrzehnte gehalten und sie spürt zunehmend, wie wichtig sie in ihrem Leben sind. Dies besonders vor dem Hintergrund, dass andere Bezugspersonen wie ihre Verwandten aus ihrem Leben scheiden. Für Anne ist klar: Freundschaften sind nicht nur eine wichtige Konstante in ihrem Leben, sie tragen auch auf vielfältige Weise dazu bei, dass sie ihr Leben als gelungen wahrnimmt.

Freundinnen und Freunde haben ihr geholfen, mit den Widrigkeiten des Lebens umzugehen, aber es ist nicht nur diese Schutzfunktion, die den Wert von Freundschaften ausmacht. Sie sind auch eine Quelle positiver Emotionen und eröffnen Gelegenheiten für persönliches Wachstum in jeder Lebensphase.

Charakterstärken

Definition: Als Charakterstärken werden positiv bewertete Eigenschaften bezeichnet, die zu einem «guten Leben» für sich selbst und andere beitragen. Obgleich sich schon die frühe Psychologie mit dem Charakter einer Person beschäftigte, wurde das Konzept von der sogenannten «neutralen» Persönlichkeit verdrängt. Erst mit dem Aufkommen der Positiven Psychologie beschäftigte man sich wieder vermehrt mit dem Charakter, dank den US-amerikanischen Psychologen Chris Peterson und Martin Seligman.
Klassifikation: Die beiden Psychologen veröffentlichten 2004 ein Messinstrument der Charakterstärken und Tugenden (Values in Action Inventory of Strengths, VIA–IS). Die VIA–Klassifikation beschreibt 24 Charakterstärken – von Kreativität über Mut, Teamwork und Selbstregulation bis zu Humor und Spiritualität – und bietet eine wichtige Grundlage, positive Eigenschaften auch empirisch zu untersuchen (siehe Link unten für einen Selbsttest).
Einfluss auf Freundschaften: In Bezug auf Freundschaften zeigt eine aktuelle Studie unter Jugendlichen (siehe Literaturhinweis), dass insbesondere die Charakterstärken Bindungsfähigkeit, Freundlichkeit, soziale Intelligenz, Humor, Teamwork, Dankbarkeit, Führungsvermögen, Weitsicht und Authentizität sowohl mit der Anzahl als auch mit der Qualität von Freundschaften zusammenhängen.

www.charakterstaerken.org

Die Autorin

Lisa Wagner ist Psychologin und Postdoktorandin an der Universität Zürich (Professur Persönlichkeitspsychologie und Diagnostik). Sie ist zudem Co-Studiengangsleiterin der Weiterbildung «CAS in Positiver Psychologie». 

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