Zwischen Psychologie und Wirtschaft

«Warum verhalten sich Menschen auf bestimmte Weise und nicht anders?» Das ist eine der Fragen, die Marianne Schmid Mast schon in jungen Jahren faszinierte. Damals konnte sie noch nicht ahnen, welch internationales Renommee ihr ihre Verdienste um die Erforschung des menschlichen Verhaltens und der sozialen Interaktionen einbringen würden. 2018 wurde die Forscherin von der American Psychology Association (APA) für ihre herausragenden, wertvollen und nachhaltigen Forschungsbeiträge zur Persönlichkeits- und Sozialpsychologie ausgezeichnet. Die Organisation TheBestSchools.org zählt sie zu den 50 weltweit einflussreichsten lebenden Psychologinnen und Psychologen. Dieses Ranking beruht zwar auf einem Algorithmus mit teils unbekannten Kriterien, doch die Schweizerin befindet sich in bester Gesellschaft. Das steigt ihr jedoch nicht zu Kopf. Obwohl zu Semesterbeginn Hochbetrieb herrscht, empfängt uns Marianne Schmid Mast in ihrem Büro an der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Université de Lausanne (HEC Lausanne), der sie seit September 2021 vorsteht.
Zunächst prädestinierte die gebürtige Oltnerin nichts zu einer solchen Karriere. Sie erwarb ihre Matura mit dem Schwerpunktfach Wirtschaft und Recht in Neuenburg. Weil das Psychologiestudium in ihrem Umfeld als Studium «für Menschen, die selber Probleme haben» galt, beugte sich Marianne Schmid Mast dem Druck und nahm ein Medizinstudium auf. «Das war meine Rechtfertigung gegenüber der Welt. Der Beweis, dass ich intelligent genug war und mir aussuchen konnte, was ich machen wollte», sagt sie und lächelt. Doch der eingeschlagene Weg erfüllte sie nicht. Sie sattelte auf ein Psychologiestudium an der Universität Zürich um. «Wir haben viel Zeit damit verbracht, das Verhalten von Affen und Fischen zu beobachten, das hat mich schon immer fasziniert.» Hier entwickelte sie ihre Vorliebe für die Forschung und ihr Interesse an Methoden, die sie auch heute noch anwendet. Sie erklärt: «Es gibt zwei Ansätze, um das menschliche Verhalten zu erforschen. Entweder man betreibt Feldforschung und beobachtet, dokumentiert und beschreibt das Verhalten in der natürlichen Umgebung. Oder man arbeitet mit Simulationen: Das heisst, man lädt Menschen ins Labor ein, setzt sie einer streng kontrollierten Situation aus und beobachtet ihr Verhalten.» Von Beginn an hegt die Psychologin eine Vorliebe für die zweite, sehr experimentelle Methode. Sie interessiert sich in ihrer Forschung für die Art und Weise, in der Menschen in Hierarchien – und somit in Machtsituationen – interagieren, wahrnehmen und kommunizieren.
Nach ihrer Dissertation an der Universität Zürich machte sie sich mit einem Stipendium des Schweizerischen Nationalfonds (SNF) auf den Weg zu einer Postdoc-Stelle in den USA. «An der University of California in Santa Barbara habe ich dann vor fast zwanzig Jahren die virtuelle Realität entdeckt», sagt Marianne Schmid Mast. «Sie steckte noch in den Kinderschuhen, machte es aber damals schon möglich, Avatare zu generieren, die sich in Echtzeit bewegen und somit soziale Interaktionen nachahmen konnten.» Die Psychologin leistete Pionierarbeit – als eine der Ersten nutzte sie diese Technologie, um das menschliche Verhalten und die zwischenmenschliche Kommunikation zu erforschen. Nach ihrer Rückkehr in die Schweiz richtete sie 2006 ein Labor für virtuelle Realität an der Universität Fribourg ein. «Es hat eine Weile gedauert, bis die Finanzierung gesichert war. Damals musste man für ein VR-Headset noch fast 40 000 Franken auf den Tisch legen. Heute sind solche Headsets schon für 500 bis 600 Franken zu haben», sagt die Psychologin.
Die Vorteile der virtuellen Realität
Aber warum braucht es eine virtuelle Umgebung, um reale soziale Interaktionen zu erforschen? «Ich forsche nicht nur in der virtuellen Realität», präzisiert die Psychologin. Aber die Technologie sei beispielsweise sinnvoll bei der Simulation von potenziell gefährlichen Situationen. «Jemand muss etwa eine Präsentation vor einem virtuellen Publikum halten und steht dabei auf einem Brett über einem Abgrund. Die Person lernt dadurch, wie sie den Stress bei ihrer Aufgabe bewältigen kann. Unter realen Bedingungen wäre das viel zu gefährlich.» Mit der virtuellen Realität kann zum Beispiel auch eine Situation simuliert werden, in der verschiedene Variablen unter Kontrolle gehalten werden müssen. «Wir haben eine Studie durchgeführt, mit der wir herausfinden wollten, ob das Büro eines Vorgesetzten einen Einfluss darauf nimmt, wie er mit seinen Untergebenen kommuniziert. In einem Szenario befand sich das Büro in der obersten Etage eines Hochhauses und hatte eine Fensterfront. In einem anderen Szenario lag das Büro im Erdgeschoss und wirkte eher düster.» So eine Studie wäre schwer durchführbar, wenn die Umgebungsbedingungen erst geschaffen werden müssten.
Seit 2014 ist die Psychologin Professorin für Organisationsverhalten an der HEC Lausanne. Sie arbeitet auch mit Unternehmen zusammen, die sich für standardisierte Bewerbungsgespräche interessieren, bei denen ein Avatar die Fragen immer auf exakt dieselbe Weise stellt. Denn nur die virtuelle Realität kann garantieren, dass alle Bewerbenden gleich behandelt werden. «Für die künftigen Arbeitgeber ist das ein interessanter Ansatz, um das Auswahlverfahren zu ergänzen. Das ersetzt natürlich nicht das Gespräch mit dem Manager, schafft aber eine zuverlässige Vergleichsbasis.» Marianne Schmid Mast arbeitet viel mit dem Einsatz der virtuellen Realität zu Trainingszwecken, wie etwa für ein Bewerbungsgespräch oder eine Präsentation vor 200 Personen. Die Université de Lausanne stellt dieses System den Studierenden zur Simulation von Bewerbungsgesprächen zur Verfügung. «So profitieren möglichst viele davon. Es ist wichtig, den Menschen etwas zurückzugeben. Letztlich sind es die Steuerzahlenden, die die Forschung und unser Gehalt finanzieren.»
Von der Psychologie zur Wirtschaft
Marianne Schmid Mast, deren Heimat die Sozialpsychologie ist, näherte sich nach und nach an die Wirtschaftswelt an. Das liegt auch daran, dass ihr Forschungsschwerpunkt auf der Arbeitswelt, den hierarchischen Beziehungen, der verbalen und nonverbalen Kommunikation und verwandten Themen liegt. «Ich war an einem Punkt angelangt, an dem es mir logisch erschien, über den Rand des Departements für Psychologie hinauszuschauen und meine Karriere woanders fortzusetzen. An der HEC Lausanne war die menschliche Dimension schon damals sehr präsent.»
Marianne Schmid Mast wollte den «Servicegedanken» in ihre Tätigkeit einbinden. Deshalb beschloss sie 2021, sich für das Amt als Dekanin der Fakultät zur Verfügung zu stellen. Sie betont: «Ich habe viel Freude daran, mich den spannenden Herausforderungen dieser neuen Funktion zu stellen.» Die Psychologin schätzt es besonders, gemeinsam mit den anderen Mitgliedern des Dekanats die Fakultät von morgen zu gestalten. Dabei liegt der Schwerpunkt auf den drei Aspekten Diversität, Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Das Profil von Marianne Schmid Mast und ihre bevorzugten Themen verleihen der HEC Lausanne ein neues Image, das weniger mit der Vorstellung von einer reinen «Business School» verbunden ist.
Angesichts der Probleme, die sich heute stellen, ist diese Entwicklung vielleicht ein Muss. «Krieg, Energiekrise, Corona und so weiter. Unsere Gesellschaft stellt sich immer häufiger grundlegende Fragen. In einer Zeit, die von Unsicherheit und grossen Transformationen geprägt ist, brauchen wir mehr denn je Menschen mit verschiedensten Ausbildungen und Kompetenzen. Wozu sollen weniger energieintensive Technologien gut sein, wenn sie von der Bevölkerung nicht genutzt werden? Die Gesellschaft wird immer Expertinnen und Experten benötigen, um das menschliche Verhalten zu verstehen und zu erklären.»
Kommentare
Die Kommentare sollen einen konstruktiven Dialog ermöglichen und die Meinungsbildung und den Ideenaustausch fördern. Die FSP behält sich das Recht vor, Kommentare zu löschen, die nicht diesen Zielen dienen.