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«Radikalisierung ist weder linear noch spezifisch»

31 Mai 2023
FSP
Sozialpsychologie, Psychologie-Beruf
31 Mai 2023
FSP
Sozialpsychologie, Psychologie-Beruf
Vincent Joris
FSP

Der Psychologe Vincent Joris entschlüsselt die Mechanismen hinter extremistischen Bewegungen und Ideologien auseinander und erklärt sie.

«Nach jedem politisch oder ideologisch motivierten Angriff oder Anschlag taucht der Begriff der Radikalisierung im fachlichen, medialen und öffentlichen Diskurs auf», bemerkt Vincent Joris. «Der Täter hat sich im Internet radikalisiert und alleine agiert», hört man dann oft. Gerade so, als handele es sich dabei um einen besonderen, auf alle anwendbaren Prozess, dessen Schritte einfach befolgt werden können. Sozialpsychologisch gesehen ist Radikalisierung jedoch weder linear noch spezifisch. 

Vincent Joris geht davon aus, dass individuelle, soziale und umweltbezogene Faktoren in diesen Prozess hineinspielen. Allerdings besteht bislang kein Konsens über die Definition der Radikalisierung. «Ich nehme gerne die Definition von Julie Rolling und Guillaume Corduhan, Psychiaterin respektive Psychiater aus Frankreich. Ihnen zufolge ist Radikalisierung das Ergebnis des Zusammentreffens zwischen einem individuellen Lebensweg und einem Glaubenssystem, das ein Ideal propagiert, welches die Anwendung von Gewalt rechtfertigt», legt er dar. 

Vincent Joris leitet seit 15 Jahren die Fachstelle Extremismus in der Armee, die als Melde- und Beratungsstelle für Extremismus-Verdachtsfälle innerhalb der Truppe dient. Zu diesem Fachgebiet ist der Wahlfreiburger «durch Zufall» gekommen, doch es fesselt ihn noch heute. Es ist ein heikles Thema, das auch polarisiert, und zugleich ein Thema, das viele Menschen beunruhigt. «Radikalität gab es vermutlich schon immer und muss auch nicht unbedingt etwas Schlechtes sein», erklärt der Psychologe. 

Was viele nicht wissen ist, dass Extremismus in der Schweiz nicht verboten ist. Jedenfalls solange «die rote Linie» der Gewalt nicht überschritten wird. «Wenn es zu einer Gewalttat kommt, oder bei Teilnahme an einer gewalttätigen Organisation, wird Extremismus strafbar und von der Polizei oder Nachrichtendiensten überwacht.» Hier handelt es sich nur um eine kleine Anzahl an Fällen.

Der Experte
Vincent Joris ist Supervisor und Berater für eine Extremismus-Fachberatungsstelle in Genf. «So habe ich einen direkten Praxisbezug, über die Fachleute, die tagtäglich junge radikale Menschen treffen oder solche, die sich radikalisieren.»
Vincent Joris - Fachpsychologe für extremistische Bewegungen und Ideologien
Vincent Joris
Fachpsychologe für extremistische Bewegungen und Ideologien

Dem Fachmann zufolge ist der Einsatz von Gewalt grösstenteils unabhängig von Kenntnisstand oder Intensität der ideologischen Überzeugungen. «Die Faktoren, die dazu führen, dass jemand gewalttätig wird, insbesondere als Einzelperson, sind eher klassisch und bekannt; sie finden sich auch in anderen Problematiken gewalttätigen oder transgressiven Verhaltens wieder», erläutert Vincent Joris. «Es gibt kein typisches Profil radikaler Personen, sondern eine Konstellation individueller Faktoren.»

Auf den einzelnen Menschen bezogen, ist Radikalität innerhalb dieser Konstellation zu verstehen: Beispielsweise haben junge Menschen mit einer radikalen Lesart des Islam miteinander gemeinsam, dass sie sich zu einer besonders normativen Lebensform hingezogen fühlen, dies oft aber auch vor dem Hintergrund dysfunktionaler Familienbeziehungen, fragiler oder schwacher Elternfiguren oder gar symbiotischer Beziehungen. «Wichtig ist, die zugrunde liegenden Dynamiken zu identifizieren und die Menschen zu den richtigen Stellen zu schicken.»

Radikalisierung entmystifizieren

Es gibt also noch viel zu tun, um Radikalisierung – vielfach noch falsch verstanden und schlecht angesehen – zu entmystifizieren. Genau das macht Vincent Joris, wenn er im Rahmen seiner Arbeit für den Bund Weiterbildungen für die Schweizer Armee entwickelt und durchführt und auf diesem Weg Offizieren und Militärpolizistinnen erklärt, wie man Extremismusfälle erkennen und angemessen darauf reagieren kann. Je nach Tagesgeschehen steht der Psychologe auch in Verbindung mit parlamentarischen Geschäften auf Bundesebene oder mit den Medien, um seine Expertise als Psychologe, der auf extremistische Bewegungen und Ideologien spezialisiert ist, einzubringen. 

Ein Bereich, in dem es nur wenige spezifische Weiterbildungsangebote gibt. «Mein Studium der Sozialpsychologie hat mir wertvolle Aufschlüsse darüber gegeben, wie Ideologien funktionieren und insbesondere wie man die Verbindungen zwischen Weltsicht und Identität angehen kann.» Ansonsten bildet Vincent Joris sich hauptsächlich «on the job» weiter, indem er viel liest. Doch die Fachliteratur lässt bisweilen zu wünschen übrig. «Mangels empirischer Daten waren in der Literatur viele Theorien im Umlauf, die fehlerhaft sind oder jeglicher Grundlage entbehren», sagt er. «Seit ein paar Jahren werden aber mehr Daten gesammelt, namentlich in Sprechstunden. So können qualitativ hochwertigere Studien veröffentlicht werden.» 

Die vielfältige Art und Weise, wie an die Problematik herangegangen wird, stellt jedoch weiterhin eine Herausforderung dar. «Es gibt keine umfassende, integrative Vision des Themas. Auch nicht zwischen den verschiedenen Fachbereichen der Psychologie.» Jede und jeder hat einen mehr oder weniger eigenen Ansatz. Zudem ist Radikalisierung nicht nur für die Psychologie ein Thema: Fachleute aus den Bereichen Soziologie, forensische Psychiatrie und Religionswissenschaft haben auch ihre eigenen Interpretationen. 

Und die Vorstellungen bleiben vielfach sehr theoretisch. «Manchmal habe ich den Eindruck, es gibt in der Schweiz mehr Fachleute dafür als extremistische Personen», sagt Vincent Joris und lächelt. Der Psychologe merkt an, dass Menschen generell dazu tendieren, Theorien zu glauben, die sie bestärken: «In der Schweiz beherrscht heute die forensische Psychologie und Psychiatrie die Debatte, weil deren Instrumente den Eindruck vermitteln, man könne objektiv messen, wie gefährlich radikale Personen sind. Die entsprechenden Tools sind in manchen Fällen zwar sinnvoll, aber lange nicht immer.»

«Was viele nicht wissen ist, dass Extremismus in der Schweiz nicht verboten ist. Jedenfalls solange «die rote Linie» der Gewalt nicht überschritten wird.»

Mit viel Geduld, Neugier und Aufgeschlossenheit engagiert sich Vincent Joris an verschiedenen Fronten. In den letzten Jahren hat er parallel zu seiner Arbeit für die Armee eine selbstständige Beratertätigkeit aufgebaut. Er ist Supervisor und Berater für eine Extremismus-Fachberatungsstelle in Genf. «So habe ich einen direkten Praxisbezug, über die Fachleute, die tagtäglich junge radikale Menschen treffen oder solche, die sich radikalisieren.» Der Psychologe hält zudem Vorträge und hat an der Entwicklung eines «Serious Game» für den Kanton Freiburg mitgewirkt, um einen Beitrag zur Prävention in Sekundarschulen zu leisten. «Wir haben eine fiktive Gesellschaft konzipiert, in der es extremistische Gruppierungen gibt.

Das Ganze wird in einem leicht schrägen Ton präsentiert, der es möglich macht, offen über das Thema zu sprechen, ohne zu sehr an die Aktualität gebunden zu sein.» Das Spiel wird deshalb «serious», also ernsthaft genannt, weil die Teilnehmenden Entscheidungen treffen, die einen Einfluss auf die Geschehnisse haben. Ziel ist, im Rahmen verschiedener Unterrichtssequenzen das kritische Denken der Schülerinnen und Schüler zu schärfen was Ideologien sowie Stereotype, Diskriminierungen betrifft. «Das ist vermutlich die am wenigsten schlechte Art, über Extremismus zu reden», sagt Vincent Joris. «Zu zeigen, woraus Extremismus besteht, ist konstruktiver, als ein moralisierendes Urteil zu verbreiten.»

Der Psychologe ist der Meinung, dass im Bereich der allgemeinen und der selektiven Prävention noch mehr getan werden könnte. «Vielleicht ist es aber auch besser, es nicht zu übertreiben», gibt er zu bedenken. Zu viel über gewisse extremistische Gruppierungen zu reden kann diese attraktiver und interessanter erscheinen lassen für Menschen, die einen Grund für die Entfesselung ihrer kriminellen Energie suchen. 

Ideen austreiben?

Vincent Joris kommt auch auf eine Schattenseite seines Jobs zu sprechen – die regelmässige Konfrontation mit den negativen Aspekten des Menschseins. Er trifft Menschen, die manchmal im Namen einer Wahrheit, die sie zu besitzen glauben, bereit sind, andere Menschen auszulöschen. «Es kann schon frustrierend sein, den Leuten nicht einfach ihre Ideen austreiben zu können», meint er. Paranoid sollte man trotzdem nicht werden. «Sobald etwas passiert ist, zeigt sich in den Medien die Tendenz zu dramatisieren. 

Und das, obwohl es in der Schweiz gar nicht so viele Personen gibt, die Probleme bereiten. Die meisten von ihnen sind zudem der Polizei bekannt und werden überwacht», sagt Vincent Joris beruhigend.  Diese Sicherheit helfe ihm, die einfachen Dinge des Lebens zu geniessen. Wie zum Beispiel mittags zu Hause mit seinen beiden Jungs zu essen, ohne befürchten zu müssen, «dass der Staatsschutz an der Tür klingelt oder Milizen in Pick-ups anrücken».  

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